WirtschaftsWoche: Herr Schell, Sie organisieren seit vielen Jahren die Selbsthilfe-Organisation Pro Pflege. Hat Sie der nun aufgedeckte Versicherungsbetrug durch betrügerische Abrechnungen russischer Pflegedienste in Deutschland überrascht?
Werner Schell: Ja, das hat er und erst Recht ein mutmaßlicher Abrechnungsbetrug in der ambulanten Pflege über eine Milliarde Euro oder mehr.
Dies auch deshalb, weil bereits 2014 bei Berliner Pflegediensten Abrechnungsbetrug ermittelt wurde und so den Krankenkassen und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) hätte bekannt sein dürfen, was so alles möglich ist.
Wie leicht macht es das Sozialversicherungssystem Betrügern in der Pflege? Jetzt heißt es, der Fehler liege im Abrechnungssystem, weshalb sich dort Organisierte Kriminalität habe entwickeln können.
Ich kann nicht erkennen, dass es das Pflegesystem den Beteiligten besonders leicht macht, betrügerisch zu handeln.
Zur Person
Werner Schell ist Dozent für Pflegerecht und Vorstand des Selbsthilfenetzwerkes Pro Pflege mit Sitz in Neuss.
Die Abrechnungen werden von den Profis der Pflegedienste erstellt und die wissen, wie es geht. Die betreuten Personen haben damit gar nichts zu tun. Aber wenn kriminelle Energie im Spiel ist, sind oft die besten Regelungen auszuhebeln. Solche Betrügereien können offensichtlich nur funktionieren, weil es gemeinsames Handeln von Pflegediensten und pflegebedürftigen Menschen gibt. Denkbar ist sogar, dass sich Personen als pflegebedürftig ausgeben und die Prüfsituation entsprechend gestalten. Beispielsweise einigt man sich auf zwei Mal Hilfe beim Waschen die Woche und der ambulante Pflegedienst rechnet das erlaubte tägliche Waschen ab. Der so erzielte "Gewinn" wird dann zwischen den Beteiligten aufgeteilt.
Wird Abrechnungsbetrug strafrechtlich bisher ausreichend verfolgt und bestraft? In den vergangenen Jahren hat es mehr als 100 bekannt gewordene Betrugsvorwürfe gegeben, aber kaum einer wurde am Ende bestraft.
Die strafrechtlichen Vorschriften reichen grundsätzlich aus, um Betrug angemessen zu ahnden. Mit mehr Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht bekommen wir keine bessere Pflege. Die Forderung ist populistisch, aber sie hilft nicht.