Pflegereform Fachkräfte am Limit

Deutschlands Altenpflegerinnen haben Angst vor den Folgen der neuen Pflegereform für die 13.000 Pflegeheime. Sie rechnen mit höheren Anforderungen als bisher, dabei ist die aktuelle Situation schon heikel.

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Wie lässt sich dem Fachkräftemangel begegnen? Quelle: dpa

Berlin Eigentlich waren es nur gute Nachrichten, die Gesundheitsminister Hermann Gröhe aus Anlass des Inkrafttretens seiner großen Pflegereform Angang Januar zu verkünden hatte: Aus den bisher einseitig an körperlichen Gebrechen ausgerichteten drei Pflegestufen sind fünf Pflegegrade geworden, die Hilfe erstmals auch denen versprechen, die aus seelischen Gründen oder wegen nachlassender Denkleistung ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen können. Dabei wurden die neuen Leistungen so gestrickt, dass sie den Menschen helfen, möglichst lange in ihrem häuslichen Umfeld zu bleiben.

Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass ein Pflegebedürftiger mit Pflegegrad 3 (nach altem Recht entspricht das Pflegestufe 1 plus Demenz) seit Januar für seine ambulante Pflege zu Hause 1.298 Euro im Monat von der Pflegeversicherung erhält, 609 Euro mehr als nach altem Recht. Darüber hinaus hat er Anspruch auf weitere 1.298 Euro, wenn er ergänzend teilstationäre Pflege in Anspruch nimmt; etwa, weil die Angehörigen mit der Betreuung in der Nacht überfordert sind (Nachtpflege im Heim) oder am Tag ein paar Stunden Entlastung brauchen. Für den gleichen Patienten zahlt die Pflegeversicherung aber nur 1.262 Euro, wenn er dauerhaft in ein Pflegeheim zieht. Das sind gute Nachrichten für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen.

Doch beim Pflegepersonal lösen diese Veränderung eher gemischte Gefühle aus. Dies belegt eine repräsentative Umfrage des Fachverlags Vinzentz. Danach fürchten die Pflegepersonen in den über 13.000 Pflegeheimen in Deutschland, dass sich für sie die Arbeitsbedingungen weiter massiv verschlechtern werden, weil in Zukunft der Anteil der leichteren Pflegefälle in den Heimen deutlich sinken wird. Wer pflegebedürftig ist, werde künftig politisch gewollt so lange wie möglich zu Hause bleiben.

Heute machen Pflegebedürftige mit Pflegestufe 1 noch zwei Fünftel der Heimbewohner aus. Nur 20 Prozent gelten als Schwerstpflegebedürftige. 79 bis 89 Prozent der Befragten erwarten wegen der aktuellen Höherbewertung der ambulanten Pflege, dass in Zukunft deutlich mehr Patienten erst mit schweren kognitiven Einschränkungen und vielen unterschiedlichen Erkrankungen im Heim landen werden. Immer häufiger würden Pflegebedürftige erst kurz vor dem Tod ins Heim wechseln, fürchten sie. Sterbebegleitung werde deshalb zu einem Schwerpunkt der täglichen Arbeit werden.

„Das Personal in den Heimen arbeitet aber heute schon am Limit“, sagt dazu Monika Gaier, Altenpflegespezialistin und Chefredakteurin beim Vinzentz-Netzwerk. Tatsächlich fürchten die Befragten, dass die fachlichen Anforderungen steigen werden und, dass dies den schon bestehenden Fachkräftemangel in der Altenpflege weiter verschärfen wird. Diese Ängste seien alles andere als aus der Luft gegriffen, meint Christel Bienstein, Vorsitzende des Berufsverbands für Pflegeberufe. „Schon heute kommen in der Nacht auf einen Betreuer im Heim im Durchschnitt 52 Pflegebedürftige.“ Die meisten Hygiene-Probleme bei Patienten gebe es aber in der Nacht. Würden sie nicht angemessen behandelt, drohten Druck- und Liegegeschwüre. „Schon heute reicht das Personal nicht, Sterbende angemessen zu begleiten.“


Wie lässt sich dem Fachkräftemangel begegnen?

Gaier verweist auf aktuelle Daten der Bundesagentur für Arbeit. Danach wird es immer schwerer, freie Stellen in der Altenpflege zu besetzen. Im Durchschnitt bleibt eine Arbeitsstelle derzeit 86 Tage unbesetzt. In der Altenpflege dauert es 138 Tage. 86 Prozent der Führungskräfte in Heimen gaben bei einer Umfrage im vergangenen Jahr an, sie spürten den Fachkräftemangel deutlich. Ein weiteres Problem sind hohe Krankenstände. Bienstein: „Die meisten Altenpflegerinnen arbeiten nur Teilzeit. Viele von ihnen, vor allem in Westdeutschland, begründen das damit, dass sie diese Arbeit 40 Stunden in der Woche gar nicht durchhalten können.“

Nach dem Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen von 2016 haben Pflegepersonen in der Altenpflege ein besonders hohes Risiko, psychisch krank zu werden. Zwei Fünftel des Personals hatten 2015 mindestens einmal die Diagnose einer psychischen Erkrankung. In der Gesamtbevölkerung trifft dieses Schicksal nur jeden Vierten. Dazu passt, dass nach der aktuellen Umfrage bereits heute 93 Prozent der Pflegefachkräfte angeben, zu wenig Zeit für die Bewohner zu haben. 86 Prozent gaben an, sie hätten „regelmäßig das Gefühl, dem eigenen pflegerischen Anspruch nicht gerecht werden zu können“. Bei vier Fünfteln der Fachkräfte führt die hohe Arbeitsbelastung zu Konflikten in der Familie und im Privatlaben.

Die drohende zusätzliche Belastung, die die Mitarbeiter vom neuen Pflegerecht erwarten, wird nach deren Einschätzung auch deshalb nicht ohne Auswirkungen auf die Pflegebedürftigen selber bleiben. 38 Prozent der Befragten erwarten, dass sich die Lage der Heimbewohner verschlechtern wird, dass also in den Heimen wieder schlechter gepflegt wird. „Deutschlands Pflegeheime hatten lange ein Image-Problem wegen schlechter Pflege. Wenn wir keine Antwort geben auf den Fachkräftemangel, wird das Pflegestärkungsgesetz zu neuen größeren Qualitätsproblemen in den Heimen führen“ warnt Bienstein. Aber wie lässt sich dem Fachkräftemangel begegnen?

Das Pflegepersonal hat darauf sehr klare Antworten: Es fordert eindeutige gesetzliche Vorgaben für den Personalbedarf. Ein bundeseinheitlicher Personalschlüssel könnte in der Tat helfen. So könnten die Heime mit solchen klaren Vorgaben im Rücken ihre Verhandlungsposition bei den Vergütungsverhandlungen mit den Pflegekassen und Kommunen stärken. Die Mitarbeiter könnten zu ihrer eigenen Entlastung die Einhaltung der Vorgaben von der Heimleitung einfordern. Doch werden sie allein den fehlenden Nachwuchs noch nicht herbeizaubern können. Das funktioniert, so die Ergebnisse der Umfrage, nur über Geld und über bessere Arbeitsbedingungen. Vor allem die Arbeitszeiten müssten so gestaltet werden, dass Familie und Beruf vereinbart werden können.

Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2015 verdienen Altenpfleger überall in Deutschland weniger als andere Fachkräfte. Die Spanne ist enorm. So liegt das durchschnittliche Bruttogehalt in Ostdeutschland bei etwas unter 2000 Euro für eine Fachkraft. In Westdeutschland sind es 2600 Euro. Im Osten liegen die Einkommen damit um 29 Prozent im Westen um 18 Prozent niedriger als die Gehälter in der Krankenpflege. Trotzdem hält die Mehrheit der Befragten nichts von den aktuellen Plänen, die Berufe Altenpflege, Krankenpflege und Kinderkrankenpflege zu einem Berufsbild mit einer gemeinsamen Ausbildung zusammenzuführen. Bundesgesundheitsminister Gröhe erhofft sich ebenso wie der Pflegebeauftragte der Bundesregierung Karl-Josef Laumann davon eine Aufwertung der Altenpflege, auch beim Gehalt.


Bei Fachkräften überwiegt die Angst

Bei den Fachkräften selbst scheint die Angst zu überwiegen, dass die Anforderungen dann zu hoch würden und Hauptschüler den Beruf nicht mehr ergreifen könnten. Auch die vielen Menschen, die aus anderen Berufen in die Altenpflege wechseln – unter den Pflegeschülern von 2015 waren 13 Prozent Berufswechsler – könnten vor der neuen generalisierten Ausbildung zurückschrecken, so eine weitere Befürchtung. Die Heimbetreiber selbst scheuen die Reform wie der Teufel das Weihwasser: Sie fürchten, am Ende deutlich höhere Gehälter zahlen zu müssen, weil die frisch ausgebildeten Pfleger andernfalls in die besser zahlenden Krankenhäuser abwandern werden. Auch dort wächst aktuell der Fachkräftemangel im Pflegebereich.

Egal wie der aktuelle Streit ausgeht, ist Monika Gaier vom Vinzentz-Netzwerk zuversichtlich, dass am Ende die Konkurrenz um das knapper werdende Personal dafür sorgen wird, dass die Vergütungen steigen. „In Ballungszentren erleben wir schon heute, dass Heimbetreiber gezielt Personal bei anderen Heimbetreibern abwerben.“ Noch reiche es dabei oft noch, den neuen Mitarbeitern neben einer Wechselprämie zu versprechen, nach dem Pflegetarifvertrag zu zahlen.

Das tun viele Heime nämlich immer noch nicht. Bislang hatten sie dafür eine gute Ausrede: In den Vergütungsverhandlungen waren Pflegekassen und Kommunen nur bereit, die Lohnkostensätze, die sich aus dem Tarifvertrag ergeben, nur dann anzuerkennen, wenn das Unternehmen auch Mitglied des Tarifverbands ist.

In Zukunft müssen sie die Kostensätze auch bei nicht tarifgebundenen Unternehmen anerkennen. „Das könnte einen Schub Richtung fairerer Bezahlung geben.“ Ein Mittel den Personalmangel zu beheben wäre auch, dass sich mehr der zu 70 Prozent Teilzeit arbeitenden Pflegepersonen entschließen, auf einen Vollzeitjob zu wechseln. „Auch das hat aber was mit Geld zu tun“, so Gaier. Sie wissen von Frauen, die lieber im Zweitjob beim Aldi an der Kasse sitzen, als ihren erlernten Altenpflegeberuf Vollzeit auszuüben. „Ganz einfach, weil da besser bezahlt wird.“

Und was wird nun aus der Reform der Pflegeberufe, in die die Politik so viel Hoffnung gesetzt hat? Seit Monaten treten hier die Verhandlungen auf der Stelle. Das jüngste Kompromissangebot aus der Union sieht vor, die neue generalistische Ausbildung für mindestens zehn Jahre zusätzlich zu den bestehenden Ausbildungsangeboten einzuführen. Dann könne sich erweisen, welcher Ausbildungsgang am Ende besser geeignet ist, für genügend Pflegekräfte im alternden Deutschland zu sorgen.

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