Philosoph Konrad Paul Liessmann "Wer keine Ahnung von Geschichte hat, dem hilft auch Wikipedia nicht weiter"

In seiner Streitschrift „Geisterstunde. Praxis der Unbildung“ rechnet der Philosoph Konrad Paul Liessmann mit den Moden des Nichtwissens ab. Ein Gespräch über PISA, Bologna und Adam und Eva.

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Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicums in Lech. Quelle: dpa Picture-Alliance

WirtschaftsWoche Online: Herr Liessmann, Ihr neues Buch heißt 'Praxis der Unbildung'. Wissen wir alle zu wenig?

Konrad Paul Liessman: Mir geht es nicht um Unbildung in dem Sinne, dass man zu wenig gelesen hat oder vieles nicht weiß. Wir wissen alle immer zu wenig. Es gab immer mehr in den Archiven und Bibliotheken, als man als einzelner wissen kann. Mir geht es um die Begriffsverwechslung, die darin besteht, dass man uns bestimmte Einrichtungen und Entwicklungen als Bildung verkaufen will, obwohl es sich dabei um Dinge handelt, die die Idee der Bildung sabotieren und zerstören.

WirtschaftsWoche: Ihr Buch ist eine Streitschrift. Die schreibt man, weil man wütend ist. Was ist der Anlass für Ihre Wut?

Mich hat die Hörigkeit gegenüber der PISA-Ideologie wütend gemacht, die Ausrichtung des gesamten Bildungssystems in Deutschland und Österreich an einem höchst fragwürdigen Test. Der zweite Grund, der auch schon für mein Vorgängerbuch „Theorie der Unbildung“ eine große Rolle spielte, ist die so genannte Bologna-Reform der Universitäten. Dazu kommt noch die Kompetenzorientierung in den Studien- und Lehrplänen, die ich sehr kritisch sehe.

Das Buch

Also das Ersetzen des Bildungszieles Wissen durch Fähigkeiten.

Keiner weiß genau, was diese Kompetenzen bedeuten. Sie sind höchst fragwürdig, völlig schwammig, ideologisch aufgeladen und beliebig.

Wie kam es dann dazu, dass man sie für so wichtig hält?

Das kommt historisch eher aus der Wirtschaft. Ursprünglich bedeutet Kompetenz so etwas wie Zuständigkeit. Ein Minister kann sagen: Dieses Thema fällt nicht in meine Kompetenz. Aber so wird das Wort kaum noch verwendet. Der heutige Kompetenzbegriff entstand im Zuge der Taylorisierung von Arbeitsprozessen. Also durch den Versuch, nicht nur zu messen, wie lange es dauert, bis ein Arbeiter bestimmte Arbeitsschritte vollzogen hat, sondern auch zu bestimmen, wie diese Leistungen verbessert werden können - indem man die zugrunde liegenden Fähigkeiten beobachtet und dann den Arbeiter schult und optimiert. Der Gedanke dahinter ist also, den Menschen aufzusplittern in einzelne, isoliert zu bewertende Fähigkeiten.

Kompetenzorientierung heißt also Bildungsziele und -ergebnisse in Zahlen auszudrücken.

Es ist skurril, dieses Bedürfnis nach Quantifizierung und einer analytischen Zergliederung. Der neue Schweizer "Lehrplan 21" für Grundschulen zum Beispiel listet auf 500 Seiten rund 4500 Kompetenzen auf, die die Sechs- bis Elfjährigen erwerben sollen. Jede Regung des Schülers wird als Kompetenz definiert und soll überprüft werden. Aber natürlich kann das niemand, weil niemand wirklich weiß, was solch eine Kompetenz überhaupt ist, geschweige denn wie diese gemessen werden soll.

Die PISA-Macher von der OECD behaupten, dass sie es können.

Aber sie können es nicht. Ein Beispiel: Zentral in allen Lehrplänen in Deutschland und Österreich ist die so genannte Selbstkompetenz. Wie ist die überhaupt definiert? Wann ist ein Schüler selbstkompetent entsprechend der acht Niveaus, die die EU vorgibt? Wenn er sich selbst anziehen kann? Selbst essen kann? Sich verlieben kann? Das ist doch unsinnig. Wie will man das bewerten? Oder nehmen wir die so genannte Reflexionskompetenz. Wenn ein Sechsjähriger sagt: „Ich sehe das nicht so“ - ist der dann schon reflexionskompetent? Oder wenn ein 18-Jähriger sagt, dass er dieses oder jenes oder auch gar nichts denkt? Hier ist der Ideologisierung der Schule Tür und Tor geöffnet.

Wie erleben Sie als Hochschullehrer konkret die Praxis der Unbildung? Und was tun Sie selbst dagegen?

Oasen der Bildung gibt es nicht mehr. Das ist auch ein Grund, warum ich diese Streitschrift geschrieben habe. Wir erleben an der Universität die Praxis der Unbildung etwa in Form der Rahmenstudienpläne. Ich habe es immerhin geschafft, dass aus dem für die Lehramtsstudenten in Philosophie die Kompetenzorientierung gestrichen wurde. Ich habe gesagt: Nur über meine Leiche. Das wollte man dann doch nicht.

Wenn ich mit Lehrern und Professoren über PISA oder die Bologna-Reformen spreche, äußern die fast immer ähnliche Ansichten wie Sie. Aber öffentlich wehren sie sich kaum dagegen.

Ja, das ist leider so. Ich finde es auch erstaunlich, wie passiv und resigniert die deutschen Universitäten den Bologna-Prozess über sich ergehen ließen und vieles noch in vorauseilendem Gehorsam exzessiv verschärfen. Obwohl es keines besonderen Mutes für einen Professor bedarf zu sagen: Ich mache nicht mit. Oder: Das finde ich falsch. Ich wollte gerade nicht zu denen gehören, die nur hinter vorgehaltener Hand klagen. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Auch um andere zu ermutigen, ihr Unbehagen zu artikulieren.

"Selbst Grundkenntnisse abendländischer Kultur fehlen"

Wie unterscheiden sich die Studenten, die heute an die Uni kommen, von den früheren?

Ich will das nicht pauschalisieren. Nicht alle sind prinzipiell ungebildeter. Viele können heute zum Beispiel besser Fremdsprachen als vor 20 oder 30 Jahren. Ein gewisses Maß an Kompetenzorientierung gerade im Sprachunterricht ist auch durchaus sinnvoll. Aber ich wehre mich dagegen, dass man das allen Fächern überstülpt. Vor allem jenen Fächern, in denen es nicht um Fähigkeiten, sondern um Inhalte geht. Ein Geschichtsunterricht, in dem keine historischen Ereignisse mehr vorkommen, ist kein Geschichtsunterricht.

Müssen Sie Ihren Erstsemester-Studenten also zunächst mal erklären, wer Kant und wer Hegel waren?

Selbst die großen Namen der Geistesgeschichte kann man nicht mehr als bekannt voraussetzen. Man muss ihnen oft sogar erklären, wer Adam und Eva waren, weil selbst Grundkenntnisse der abendländischen Kultur fehlen.

Dafür gibt es, könnte man einwenden, heute Google und Wikipedia. 

Wenn sie bei Google etwas finden, fehlt ihnen aber oft das Wissen, um es richtig einzuordnen. Wer überhaupt keine Ahnung hat von jüdisch-biblischer Geschichte, dem hilft auch der Wikipedia-Artikel über König David so gut wie gar nicht. Die Studenten stöhnen auch schon, wenn sie einen Ausschnitt von 20 Seiten lesen sollen. Neugierde darauf, wie ein Gedanke in einem Text entwickelt wird, gibt es nicht mehr. Sie wollen gleich das Ergebnis haben, möglichst knapp und effizient. Das entspricht dem Zeitgeist der Unbildung: Keine geistigen Ressourcen verschwenden. Es gibt aber keinen Geist ohne Verschwendung!

Ein akademisches Studium also, das ganz nach ökonomischen Kriterien ausgerichtet ist. 

Deswegen drehen sich viele Debatten über Bildungsinhalte um die Frage: Werden die Schüler das in 15 Jahren noch brauchen? Dabei ist jeder anmaßend, der beurteilen zu können glaubt, was wir in 15 Jahren noch anwenden werden. Wir wissen das ebenso wenig, wie man vor 15 Jahren wusste, was wir heute brauchen.

Was sollte stattdessen ein Kriterium für das Lehrangebot sein?

Ich plädiere für die Vermittlung jenes Wissens, von dem man ahnen kann, dass es sich nicht so bald überlebt, weil es schon bisher die Zeiten überdauert hat. Ich bin nicht so sicher, ob man den frisch gekürten Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano in 200 Jahren noch lesen wird. Aber ich bin ziemlich sicher, dass man Sophokles und Shakespeare in 200 Jahren noch lesen wird.

Vorbilder der Studenten: Vater, Mutter und Angela Merkel
Was den Studenten persönlich besonders wichtig ist73 Prozent der Befragten gaben an, dass Familie für sie an erster Stelle steht - gefolgt von Freunden und einem hohen Lebensstandard. Freizeit und Sport halten 17 Prozent für besonders wichtig. Der berufliche Erfolg hat nur bei 15 Prozent einen hohen Stellenwert. Damit blieben soziale Faktoren weiterhin deutlich wichtiger als Karriere und Geld. Quelle: Fotolia
Studentendemo Quelle: dpa/dpaweb
Foto junger Mann zeigt Daumen hoch Quelle: Fotolia
Foto Eltern im Kreis, Ansicht von unten Quelle: Fotolia
Foto von Angela Merkel Quelle: AP
Junger Mann mit fragendem Gesicht Quelle: Fotolia
Handschlag zwischen Chef und seinem neuen Angestellten Quelle: Fotolia

Erzeugt eine von der Ökonomie beherrschte Gesellschaft Unbildung oder ist es umgekehrt: Macht erst die wachsende Unbildung die allgemeine Ökonomisierung möglich?

Beides schaukelt sich gegenseitig auf. Es gehört schon ein gerütteltes Maß Unbildung dazu, in quantifizierenden Verfahren wie PISA einen Fortschritt zu erkennen. Bei vielen dieser Leute fehlt eine Idee von Bildung. Die haben einfach keine Ahnung. Viele Humboldt-Kritiker haben ihn nie gelesen.

Gehört zu den negativen Folgen der Ökonomisierung auch die Zunahme privater Schulen und Hochschulen?

Meine Sorge betrifft nicht die Frage, wer Bildungsinstitutionen finanziert. Das können Private genauso wie der Staat. Mir geht es um diese Scheinökonomisierung durch die Einführung künstlicher Wettbewerbe mit Vergleichstests. Man tut so, als seien Schulen und Universitäten Dienstleistungsunternehmen. Das sind sie natürlich nicht. Man tut so, als seien Studenten Kunden. Das sind sie natürlich nicht. An einer richtigen Universität sind alle mehr oder weniger Mitglieder einer Lern-, Lehr- und Forschungsgemeinschaft. Wir stülpen also dem, worum es geht und was gemacht wird, Begriffe über, die nicht angemessen sind. Wenn man dann mit Regeln aus der Wirtschaft kommt, die ganz andere Zwecke haben, knirscht es an allen Ecken und Enden. Dann kommen perverse Ergebnisse heraus.

"Das System der Credit Points ist unsinnig"

Zum Beispiel?

Es verändert das Bewusstsein. Als ich als Student an die Universität kam, habe ich aufgeatmet: Freiheit! Ich habe mich auch sofort ernst genommen gefühlt als Mitglied einer neugierigen, forschenden, diskutierenden Gemeinschaft. Aber wenn man als Kunde behandelt wird, lehnt man sich zurück und sagt: Was habt ihr mir zu bieten? Und die Studenten sind enttäuscht, weil sie nicht mehr wissen, was es heißt, Student zu sein.

Also weg mit dem Wettbewerb?

Wettstreit gab es immer in der Wissenschaft. Sich gegenseitig zu kritisieren, ist die authentische Form akademischen Wettbewerbs. Aber eben nicht das Zählen von Aufsätzen in bestimmten Journals mit bestimmtem Impact Factor. Ludwig Wittgenstein, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, hat überhaupt nur ein Buch veröffentlicht. Der hätte heute keine Chance.

Ihre Bücher sind Bestseller, werden in den Medien diskutiert. Gibt es darauf aus der Bildungspolitik Reaktionen?

Meine kritischen Überlegungen werden wohl wahr-, aber vielleicht nicht wirklich ernst genommen. Mit dem früheren österreichischen Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle, einem Altphilologen, bin ich befreundet. Er stimmte mir zu, dass das System der Credit-Points für Studenten unsinnig ist. Aber er könne halt nichts machen, sagte er, da es einen europaweiten Konsens dafür gebe. Bei anderen habe ich den Eindruck, die verfolgen ein bildungspolitisches Programm, das oft parteiideologisch geprägt ist. Auf kritische Fragen lässt man sich nicht ein. Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsminister Mathias Brodkorb mit seiner Skepsis gegen die Kompetenzorientierung ist eine positive Ausnahme.  

Nehmen wir mal an, ein Bundeskanzler käme auf die Idee, Sie zum Minister zu machen…

... was ich gar nicht sein will...

...oder Sie könnten hinter den Kulissen die Bildungspolitik bestimmen, was wäre zu tun?

Die Bologna-Reformen an den Universitäten so weit wie möglich rückgängig machen! Vor allem das europäische Credit-Points-System ECTS und die Modularisierung der Lehrveranstaltungen würde ich abschaffen beziehungsweise lockern. Das hat zu einer völligen Verwilderung der Studienfächer geführt. Ich würde die Kompetenzorientierung aus den Schullehrplänen streichen und zu einem an Inhalten orientierten Unterricht zurückkehren. Und an den Grundschulen zu einer Didaktik, mit der die Kinder wirklich Lesen und Schreiben lernen.

Viele Bildungsforscher und -politiker halten Sie vermutlich für einen Reaktionär.

Die modischen Methoden kritisch unter die Lupe zu nehmen, heißt nicht, den Rohrstock wieder einzuführen. Als ob die einzige Alternative die Schule des 19. Jahrhunderts wäre! Es muss doch ein Unterricht möglich sein, in dem Grundschüler auf freundliche und sanfte Art darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie ein Wort falsch geschrieben haben. Es gibt ein Maß an scheinbarer Kinderfreundlichkeit, die eigentlich eine Kinderfeindlichkeit ist, weil sie die Kinder um Chancen betrügt. Und wenn Reformen das Gegenteil des Intendierten hervorbringen, dann ist ein Rückbau nicht reaktionär, sondern ein Gebot der Klugheit. Niemand, der sein Auto in eine Sackgasse manövriert, hält Umdrehen für reaktionär!

Viele Eltern fürchten nicht so sehr die verpassten Bildungschancen ihrer Kinder, sondern wollen vor allem, dass die Kinder gute Chancen fürs Berufsleben haben.

Die Grundlagen für eine gute Bildung sind, glaube ich, auch gute Grundlagen dafür, in der Arbeitswelt nicht unterzugehen. Die Idee einer qualifizierenden Berufsausbildung und die einer humanistischen Bildung schließen sich nicht aus. Das hat schon Humboldt so gesehen. Die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und der Welt ist nicht ein eigener Bildungsweg im Gegensatz zu beruflicher Ausbildung. Bildung geht, wie Humboldt sagt, auch jeden Schuster an.

Was ist denn der wesentliche Unterschied zwischen Ausbildung und Bildung?

Der Philosoph Peter Bieri hat das so beschrieben: Ausbilden können uns andere, mit dem Ziel etwas zu können. Bilden kann ich mich letztlich nur selbst, mit dem Ziel zu erkennen, wie ich in der Welt stehe. Menschen, die nur ausgebildet werden und sich nie mit etwas befassen können, werden um die Chance betrogen, Dinge und Menschen um ihrer selbst Willen wahrzunehmen und schätzen zu lernen. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der alles und jeder ständig nur auf seinen Nutzen hinterfragt wird. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen im Museum sich fragen: Trägt dieses Bild zu meiner visuellen Kompetenz bei? Ich möchte, dass Menschen beeindruckt, erschüttert, berührt vor einem Rembrandt oder Van Gogh stehen und sich sagen: Wie wunderbar in einer Welt zu leben, in der etwas so Schönes und doch Irritierendes erschaffen wurde. Und es ist völlig egal, ob dieser Mensch Bauarbeiter, Informatiker oder Universitätsprofessor ist.

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