Auch deshalb hat Carl-Heinz Schütte jetzt in Berlin-Charlottenburg ein Büro bezogen, hoch oben, im 15. Stock eines Bürokomplexes. Es ist nicht gerade die schönste Gegend rund um den Kurfürstendamm, auch nicht das schönste Haus, links davon duckt sich eine Kik-Filiale weg, rechts ein Edeka, gleich gegenüber, hinter dem Peugeot-Händler und der Freien Tankstelle, rauscht die S-Bahn vorbei, aber was soll’s: Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft der frisch aus dem Vorstand der Berliner AfD vergraulten Parteifreundin Annette Goldstein gewährt vorübergehend Unterschlupf, zum Nulltarif, versichert Schütte, da kann man nicht meckern: drei mal sieben Meter, zwei Schreibtische, ein Drucker, ein Telefon, zwei verspiegelte Schrankwände – Platz genug für Schütte und seinen Stellvertreter Georg Metz. So sieht sie also aus, die Parteizentrale der AfD. Und vor denen soll Angela Merkel sich fürchten?
Seit der Niedersachsen-Wahl am 20. Januar schon. Damals verpassten CDU und FDP die Mehrheit im Landtag, weil ihnen ein paar Hundert Stimmen fehlten – Stimmen, die die Piraten (2,1 Prozent) und die Freien Wähler (1,1 Prozent) einheimsten, die damals mit Bernd Luckes Wahlalternative, einem Vorläufer der AfD, kooperierten. Die Wahl in Niedersachsen hat gezeigt, dass Urnengänge in Deutschland vor allem unberechenbar werden. Die Anziehungskraft der beiden Volksparteien ist dahin. Das politische Angebot vergrößert sich laufend (siehe Grafik). Und immer neue, kleine Parteien wie die Piraten und neuerdings die AfD demonstrieren, dass sie das gemütliche Gleichgewicht der etablierten Kräfte mit strengem Sachthemenbezug und mit der Mobilisierung von politikverdrossen Engagierten blitzschnell zu stören verstehen.
Ihr politisches Grundkapital verdanken AfD und Piraten der Ignoranz und Machtarroganz der arrivierten Kräfte. Die Piraten sammelten junge Menschen ein, die kein Verständnis hatten für die umfassende Verständnislosigkeit der Politik in Internet-Fragen. Und die AfD wird nun zur Heimat derer, die sich verhohnepipelt fühlen von einem Politikbetrieb, der milliardenschwere Gesetze durchs Parlament peitscht. Der Kritikern des Regierungskurses das Rederecht entzieht. Der Staatsschulden kontinentweit vergemeinschaftet. Der den Preis des Geldes manipuliert. Der die Ersparnisse der Deutschen aufs Spiel setzt. Und der, nicht zuletzt, die Erhaltung des einheitlichen Währungsraumes mit einer abenteuerlichen Zirkelschlusslogik begründet: Europa muss gerettet werden, weil Europa gerettet werden muss.
Die Anti-Euro-Thesen der „Alternative für Deutschland“
Wir fordern eine geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebietes. Deutschland braucht den Euro nicht. Anderen Ländern schadet der Euro. (Quelle: Parteiprogramm)
Wir fordern die Wiedereinführung nationaler Währungen oder die Schaffung kleinerer und stabilerer Währungsverbünde. Die Wiedereinführung der DM darf kein Tabu sein.
Wir fordern eine Änderung der Europäischen Verträge, um jedem Staat ein Ausscheiden aus dem Euro zu ermöglichen. Jedes Volk muss demokratisch über seine Währung entscheiden dürfen.
Wir fordern, dass Deutschland dieses Austrittsrecht aus dem Euro erzwingt, indem es weitere Hilfskredite des ESM mit seinem Veto blockiert.
Wir fordern, dass die Kosten der sogenannten Rettungspolitik nicht vom Steuerzahler getragen werden. Banken, Hedge-Fonds und private Großanleger sind die Nutznießer dieser Politik. Sie müssen zuerst dafür geradestehen.
Wir fordern, dass hoffnungslos überschuldete Staaten wie Griechenland durch einen Schuldenschnitt entschuldet werden. Banken müssen ihre Verluste selbst tragen oder zu Lasten ihrer privaten Großgläubiger stabilisiert werden.
Wir fordern ein sofortiges Verbot des Ankaufs von Schrottpapieren durch die Europäische Zentralbank. Inflation darf nicht die Ersparnisse der Bürger aufzehren.
Selbst wenn Piraten und AfD am 22. September die Fünf-Prozent-Hürde nicht nehmen sollten – ihr Einfluss auf den Wahlausgang könnte beträchtlich sein. Nimmt man die jüngste Umfrage zum Maßstab, würde immerhin jeder siebte Wähler im September seine Stimme umsonst abgeben – und Merkels Erfolgsunion stünde allein im Bundestag gegen eine Phalanx aus SPD, Grünen und Linken. In der Union fordern vor allem Konservative deshalb endlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD – sehr zum Verdruss von Angela Merkel, die sich daran gewöhnt hat, mit gezielter Wählereinschläferung relative Mehrheiten zu gewinnen. Merkel vertraut darauf, dass die meisten Deutschen vor allem Ruhe wünschen. Ihr Prinzip ist es deshalb, keine Prinzipien zu verfolgen und den politischen Raum durch die Verbannung von Fantasie, von Ideen und verbindlichen Zielen gleichsam leerzusaugen. Die etablierte politische Konkurrenz hat Merkel damit sehr erfolgreich ausgelaugt. Doch die Präsenz von AfD und Piraten zeigt, dass Merkels Versuch, Deutschland zum politischen Vakuum zu degradieren, auf Dauer misslingen muss. Bei beiden Parteien handelt es sich nicht um Sammelbecken für Politikverdrossene, sondern im Gegenteil um Protestparteien, die mit guten Gründen gegen die Entpolitisierung Deutschlands und die Zynismen des parlamentarischen Betriebs rebellieren.
Bernd Lucke ist sich daher sicher, dass die AfD in den Bundestag einzieht, „mit Pauken und Trompeten“ sogar. Der Parteichef der AfD ist heute in Berlin, er sitzt in einem Café nahe des Brandenburger Tores und empfängt Journalisten zu durchgetakteten Dreiviertelstundengesprächen. Gerade verabschiedet sich der Publizist Henryk Broder: „Bleiben Sie am Ball. Lassen Sie sich nicht unterkriegen.“ Lucke lacht. Nein, das hat er nun wirklich nicht vor. Lucke spricht schnell, fest und ungeduldig, er nickt eifrig in Fragen hinein, um seine Antworten schneller loswerden zu können, sein ganzer Körper wirkt gespannt, wie von Adrenalin durchströmt: Er war zu Gast bei Maybrit Illner und Anne Will, er streitet sich in der „FAZ“ mit Dennis Snower, dem Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, seine AfD wird von Peer Steinbrück als „hochgefährlich“ eingestuft und treibt Außenminister Guido Westerwelle (FDP) „die Zornesröte“ ins Gesicht.