Vielleicht noch schwerer wiegt die programmatische Selbstaufzehrung. Das zeigte sich exemplarisch vor wenigen Wochen beim jüngsten Parteitag. Dort warben Spitzenpolitiker für die Einführung einer Ständigen Mitgliederversammlung (SMV), also eine Art permanenten Online-Parteitag. Ergebnis: Die SMV wird es nicht geben. Was es gibt, immerhin: Künftig können die Piraten nicht nur an der Urne oder per Briefwahl, sondern auch online über Änderungen des Parteiprogramms abstimmen. Aber wie so ein Hybrid aus analog und digital funktionieren soll – „das habe ich ehrlich gesagt bis heute nicht verstanden“, sagt der Berliner Pirat Christopher Lauer. Für so manchen Freibeuter ist das Scheitern des SMV-Verfahrens beinahe gleichbedeutend mit dem Scheitern der Partei. Denn was bei der Konkurrenz eine bloße Strukturfrage wäre, trifft die Piraten in der Substanz: Neben den Inhalten wird hier eine Methode gewählt. Scheitert die Organisation einer liquiden Partei, die sich mit den Mitteln der Schwarmintelligenz ständig selbst verfeinert, entziehen sich die Piraten gleichsam ihren Selbstauftrag.
Die Grenzen des Wachstums haben die Piraten aber nicht nur ereilt, weil ihre Netz-Prozess-Politik an institutionelle Grenzen stößt, sondern auch, weil sie als Freizeitpolitiker schlicht überlastet sind. Die frühere Geschäftsführerin Marina Weisband wechselte sich bereits nach einem knappen Jahr aus – Selbstdiagnose: ausgebrannt. Wichtige Spitzenpiraten gehen tagsüber normalen Berufen nach – und betreiben Politik in ihrer Freizeit. „Ich habe eine 80- bis 100-Stunden-Woche“, sagt Schlömer, Beamter im Bundesverteidigungsministerium: Tags dient er dem Land, abends der Partei. Erschwerend hinzu kommt der Anspruch der Piraten, besonders transparent und laienoffen zu sein. Schlömer hält montags eine Sprechstunde im Netz ab. Fraktionssitzungen werden online übertragen und ins Netz gestellt – und die Dauerdiskussionen auf Twitter führen dazu, dass die Partei sich wahnsinnig gerne um sich selbst dreht. Viele stehen das auf Dauer nicht durch, entsprechend oft wechselt das Führungspersonal. Auch Schlömer wird den Job nicht ewig machen: „Es wird auch wieder Zeiten geben, in denen ich mich in einen Biergarten setzen kann.“
Für Bernd Lucke ist ein Bier im Garten dieser Tage in etwa so verlockend wie ein Griechenland im Euro-Raum. Der Professor liest dienstags an der Hamburger Uni Wachstumstheorie und Makroökonomie, stottert seine Überdeputate ab und hat sich teilweise beurlauben lassen – das alles, um aus den Fehlern der anderen zu lernen. Beispiel Internet: Während sich die Piraten mit ihrer Netzkompetenz zu Tode twittern, tummeln sich AfD-Mitglieder in den Echoräumen von „Spiegel“, „Süddeutsche“, „FAZ“, „Handelsblatt“ und WirtschaftsWoche – und schlagen dort so auffällig viel Lärm, dass sich Millionen von Lesern ihren Argumenten gar nicht entziehen können. Freilich, eine Erfolgsgarantie ist damit nicht verbunden: Viele Kommentare sind abstoßend. Und vorerst verharrt die AfD in Umfragen bei zwei bis drei Prozent.
Ob Lucke schon mal mit Gabriele Pauli gesprochen hat? Auch die ehemalige CSU-Politikerin hat sich einmal den Freien Wählern angeschlossen. Auch sie geriet mit FW-Chef Aiwanger aneinander. Auch sie gründete daraufhin eine eigene Partei: die Freie Union. Auch sie erhielt in der Gründungseuphorie überwältigend viel Zuspruch: 2000 Mitglieder in zehn Tagen. Trotzdem reichte es bei der Bundestagswahl 2009 zu gerade einmal 6000 Stimmen. Der Rest war Schweigen.
„Mehr Struktur, eine starke Organisation, eine straffe Führung“ – so würde Pauli es heute machen. Und so macht es die AfD. „Ich bin der Transmissionsriemen“, sagt Geschäftsführer Carl-Heinz Schütte, „ich muss die Kraft unserer Argumente, die Leidenschaft unserer Mitglieder, die Wissenssubstanz unserer Freunde jetzt auf die Straße bringen.“ Schütte ist sich sicher, dass die „zügellose Energie nicht gezähmt, aber kanalisiert werden muss“, und zwar von oben nach unten. Einer habe das Sagen, und das sei der Bundesvorstand um Bernd Lucke. Der Rest müsse sich unterordnen, ihm zuarbeiten, ihm helfen, 17 Wochen lang, rund um die Uhr. Danach könne man weitersehen. Klingt ziemlich autoritär? „Klingt ziemlich nach Erfolg“, sagt Schütte.