Seit ihrer Gründung kennt die Piratenpartei nur einen Aggregatzustand: klamm. Wenn sich der Parteivorstand trifft, dann muss er schon mal über die ganz kleinen statt die ganz großen Linien entscheiden, etwa über die „Anschaffung eines Stahlschrankes mit vier Fachböden, Kosten 200 Euro“. Auch in den Landesverbänden beschäftigen sich die Parteispitzen anstelle von Inhalten öfter mit der Bewilligung von 40 Euro Benzingeld. Oder mit Skurrilitäten wie Antrag #51592.
Darin bat Parteimitglied Ansgar Flack den Vorstand der Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen um die Erstattung von 50 Euro. Flack hatte eine Schatztruhe gekauft, die als „stilvolle Wahlurne“ auf Parteitagen eingesetzt wird. Doch um das Geld zurückzubekommen, musste Flack auf eine mehr als zwölfmonatige Odyssee durch die Finanzbürokratie seiner Partei gehen: Er benötigte dafür 14 Mails, acht Ticketnummern im Helpdesk-System der NRW-Piraten und zwei Anträge an den Vorstand.
Politiker und Finanzen vertragen sich nicht
„Ich kann jede Verärgerung im Bereich Finanzen verstehen“, erklärte selbst der damalige Chef der NRW-Piraten, Michele Marsching, auf dem Landesparteitag Ende Juni. „Ich selber bekomme noch Geld.“
Obwohl die Freibeuter-Partei so anders sein will als ihre etablierte Konkurrenz, beweist sie einmal mehr, dass Politiker und Finanzen sich nicht vertragen. Die Buchhaltung der politischen Newcomer bestand bis vor Kurzem aus kaum mehr als Zettelsammlungen und Excel-Listen. Das Kassieren von Mitgliedsbeiträgen hat bisweilen eher die Qualität zufälliger Raubzüge als organisierter Arbeit. Als Geschäftsgrundlage für kommendes Jahr, das den jüngst so erfolgsverwöhnten Piraten den krönenden Einzug in den Bundestag bringen soll, ist das denkbar mau. Geld für den Wahlkampf ist entsprechend knapp, und das aus selbst verschuldeter Planlosigkeit.
Der Vorstoß der Bundesspitze um Chef Bernd Schlömer und Schatzmeisterin Swanhild Goetze für eine Abgabe auf alle bisherigen Abgeordneten-Diäten sorgt dennoch für grimmigen Widerstand. Lieber Ebbe in der Kasse als Zwangskollekte, lautet die Parole der Gegner.
Berichte der Wirtschaftsprüfung sind vernichtend
Dabei sorgt das Finanzchaos schon seit dem Vorjahr für massiven Ärger, vor allem in Nordrhein-Westfalen. Anonyme Spenden und 80 Buchungen hatten Fragen aufgeworfen, die Lokalpresse schrieb von einem „Finanzskandal“, auch das Referat PM3 Parteienfinanzierung der Bundestagsverwaltung horchte auf. Schlömer war damals noch Schatzmeister der Bundespartei und musste externe Wirtschaftsprüfer beauftragen, die Auffälligkeiten in der NRW-Buchhaltung zu durchleuchten.
Der Bericht der ESC Wirtschaftsprüfung liest sich teilweise vernichtend. „Es war nicht nachvollziehbar, ob alle Einnahmen und Ausgaben erfasst sind“, heißt es da. Die Prüfer bemängeln zudem, dass keine zeitnahe Buchführung erfolgte, und mahnen: „Die Vorgehensweise hinsichtlich der Kassenführung ist zu verbessern.“
Geschehen ist wenig. Auf dem NRW-Parteitag Ende Juni konnte auch die neue Schatzmeisterin keinen Rechenschaftsbericht vorlegen und wurde in Abwesenheit gleich wieder abgewählt. „Unsere Unterlagen bestanden lange aus einem Schuhkarton voll Belege“, klagt der Landtagsabgeordnete und frühere Kassenprüfer Hanns-Jürgen Rohwedder. „Jeder neue Schatzmeister hat die Unordnung übernommen.“
Eine Pappkiste mit Belegen
Dass sich diese chaotische Zettelwirtschaft durch die gesamte Partei zieht, weiß kaum jemand besser als Parteichef und Ex-Schatzmeister Schlömer. Bei seiner ersten Wahl wurde ihm eine Pappkiste mit Belegen übergeben. „Ich sehe immer noch diesen Karton vor mir, der mal irgendwo unbeobachtet herumstand, aber oftmals liebevoll von Bernd durch die Gegend getragen wurde“, erinnert sich die aktuelle Schatzmeisterin Swanhild Goetze.
Doch die Liebe zur Laxheit wird nun zum ernsten Problem. So konnte selbst auf dem jüngsten Bundesparteitag im April kein abstimmungsfähiger Rechenschaftsbericht für 2011 vorgelegt werden. Schuld hatte Schlömer selbst: Er habe „einen Datencrash hingelegt“, erklärte er lapidar. Prompt verweigerten die Anwesenden die Entlastung. Konsequenzen hatte das nicht.
Um Zeit für die nötige Aufarbeitung zu gewinnen, werden die Piraten bei Bundestagspräsident Norbert Lammert um Aufschub bitten müssen. Eigentlich verlangt das Gesetz, dass alle Parteien ihren vollständigen Rechenschaftsbericht für 2011 bis zum 30. September bei der Bundestagsverwaltung abgeben – sonst gibt es nichts aus der staatlichen Parteienfinanzierung. Der Termin ist jedoch nicht zu halten. „Wir werden einen Antrag auf Verlängerung bis zum 31. Dezember 2012 stellen“, sagt Schatzmeisterin Goetze.
Umstrittene Investition
In solchen Lieferungen auf den letzten Drücker ist die Partei geübt: Die Rechenschaftsberichte 2009 und 2010 übergab Schlömer erst am 29. und 30. Dezember. Persönlich, damit die Deadline nicht noch von der Post gefährdet würde.
„Wir sind so stark gewachsen, dass unsere alte Buchhaltung mit Tabellenkalkulation einfach nicht mehr machbar ist“, sagt der Schatzmeister der hessischen Piraten, Lothar Krauß. Statt in Dutzenden separaten Excel-Tabellen sollen Einnahmen und Ausgaben in Zukunft mit einer professionellen Software erfasst werden. 54 686,26 Euro kostete die Piraten das Programm namens Sage. Es ist die höchste Einzelinvestition in der Geschichte der Partei – und entsprechend umstritten.
Viele Mitglieder fragen, warum man denn nicht selbst eine Lösung programmierte? Andere schimpfen, dass Sage teils über Server des verhassten Softwareriesen Microsoft läuft. Das Programm sei zu komplex, warnt wiederum der Schatzmeister in Unterfranken, Albert Barth. „Wir haben nicht die Leute, diese Lösung zu bedienen“, warnt der Steuerberater.
Kündigung wegen Sage
Seither nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Statt die Probleme zu lösen, schafft Sage neue. Eigentlich sollte die Software im Januar einsatzbereit sein, doch viele Landesverbände konnten erst vor Kurzem loslegen. „Wir haben immer noch Schwierigkeiten“, räumt René Brosig ein, der bis zum Frühjahr Bundesschatzmeister war. Der bayrische Kollege Dominique Schramm hat wegen der Probleme sogar seinen Posten hingeworfen. Er erklärte zum Abschied: „Ich habe Angst, dass mir der ganze Landesverband um die Ohren fliegt.“
Und im nächsten Jahr droht neues Ungemach. Denn durch die Softwareprobleme staut sich auch die laufende Buchhaltung auf. „Es gibt einen Rückstand von vier bis fünf Monaten“, sagt Brosig.
Warten auf Beiträge
Dabei wäre die mangelhafte Buchhaltung allein noch verschmerzbar, auch wenn sie die Nerven der chronisch überlasteten Aktivisten frisst. Doch die Partei ist nicht nur schlecht im Verwalten, sondern auch im Einnehmen. „Wegen der Umstellung der Software hatten wir keine Möglichkeit, die Mitgliedsbeiträge zu verbuchen“, sagt der bayrische Landesvorsitzende Stefan Körner. Er hat daher im Frühjahr die Mitglieder angeschrieben und gebeten, ihre Beiträge nicht zu überweisen.
Für die Partei und ihre ehrgeizigen Ziele ist das fatal. „Mitgliedsbeiträge sind immer noch unsere wichtigste Einnahmequelle“, sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende Sebastian Nerz. Für den Wahlkampf wünscht er sich deshalb eine „höhere Bezahlquote“. Nerz koordiniert das bundesweite Wahlkampfteam, das dafür sorgen soll, dass 2013 der Bundestag gekapert wird. Die Piraten werden auf Werbeagenturen verzichten müssen und stattdessen die kostenlose Kreativität ihrer Mitglieder im Netz anzapfen: „Es wird wieder Twitter-Aufrufe geben, um die besten Slogans zu finden“, kündigt Nerz an.
Schlechte Zahlungsmoral
Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig angesichts der eklatanten Zahlungsmoral. In Sachsen überweisen zum Beispiel nur 36 Prozent der Piraten ihren Mitgliedsbeitrag, auch in Brandenburg oder Bayern zahlt die Mehrheit nicht (Grafik). Doch Mahnungen lehnen viele Landesverbände prinzipiell ab, allenfalls Zahlungserinnerungen sind vielerorts opportun.
Das Geld fehlt dafür gleich doppelt in der Parteikasse. Insgesamt mehr als 1,5 Millionen Euro stünden den Piraten aus der Parteienfinanzierung zu. Doch überwiesen wurde nur ein Drittel. Denn die Auszahlung ist gesetzlich gedeckelt: Der Zuschuss darf nicht höher sein als die eigenen Einnahmen der Partei. Und die betrugen 2010 nur 610 000 Euro.
Die Piraten fühlen sich von der Regel benachteiligt, zumal das Gesetz erst vor gut einem Jahr geändert wurde. Deswegen klagt die Partei derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht, der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Nico Kern hat die Klageschrift formuliert. Kern blättert in einem grünen Schnellhefter durch die Seiten. „Hier steht es“, sagt der Jurist: Die Änderung führe im Jahr 2012 noch einmal zu einer Kürzung der Ansprüche um 5,4 Prozent. Vor allem aber, kritisiert er, werde der Anteil, der den Piraten entgeht, durch die Neuregelung unter der Konkurrenz aufgeteilt. „Eigentlich müsste der ungenutzte Teil an den Steuerzahler zurückfließen“, findet Kern, „doch die etablierten Parteien wollen es sich durch einen gesetzgeberischen Trick einverleiben.“
"Landes-Schatzis" sollen lernen
Der Ärger auf andere kaschiert jedoch, dass die Piraten den Großteil ihrer Finanzprobleme allein regeln müssen. Wie es geht, zeigen die Hessen. Dort konnte Schatzmeister Krauß 92 Prozent der Mitglieder zum Zahlen bewegen – Parteirekord. Er pflegt eine intensive Betreuung per E-Mail und Post, die nun als Vorbild dienen soll: Bei einem Treffen der „Landes-Schatzis“, so der Partei-Jargon, hat Krauß seine Eintreibemethode vorgestellt. Erstaunt stellte er fest, dass viele Verbände noch nicht einmal Lastschriftverfahren anbieten. „Ich hoffe und erwarte, dass möglichst viele Gliederungen dieses oder ein gleichwertiges Verfahren übernehmen, um eine ähnliche Zahlungsquote zu erreichen“, fordert Bundes-Kollegin Goetze.
Kreativ Geld verdienen wird die resolute Hamburgerin bald auch selbst: Sie eröffnet einen Online-Shop mit Fan-Artikeln.