PISA-Pionier Baumert "G9 kostet nur mehr Geld, es bringt nichts!"

Der Chef der ersten deutschen PISA-Studie Jürgen Baumert blickt zurück auf 15 Jahre Dauerreform im deutschen Schulwesen und findet wenig Gutes an den aktuellen Forderungen der Zunft.

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Der deutsche Leiter der ersten PISA-Studie, Jürgen Baumert, blickt zurück auf 15 Jahre Dauerreform im deutschen Schulwesen. Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Baumert, Sie haben vor fast 20 Jahren die erste deutsche PISA-Studie organisiert, es folgte ein Aufschrei und dannach eine Reform auf die andere. Wie steht das Schulsystem heute da?
Jürgen Baumert: Alles in allem muss ich schon feststellen, dass sich die Lage verbessert hat. Gerade die Schüler aus den sogenannten Risikogruppen, also diejenigen auf dem untersten Leistungsniveau, haben sich deutlich verbessert.

Also haben die politischen Reformen Wirkung gezeigt?
Mit den institutionellen Reformen wie der Verkürzung und Verlängerung der Schulzeit hat das fast nichts zu tun. Der Positivtrend hat andere Ursachen. Zum einen stammen heute die allermeisten Schüler mit Migrationshintergrund aus der zweiten Generation. Sie sind deutlich besser in der Schule. Zudem hat sich die Kultur der Lehrer deutlich verändert.

Was soll das heißen?
Früher wurden für schlechte Leistungen ausschließlich die Schüler selbst verantwortlich gemacht. Heute ist es unter Lehrern völlig selbstverständlich, dass man sich auch um die schwächsten Schüler kümmert.

Zur Person

Hat man dafür dann am anderen Ende, also bei den Leistungsträgern, gespart?
Das nicht. Aber die Förderung von Talenten ist heute nach wie vor eine Schwäche der deutschen Schule. Wir kümmern uns viel um Hochbegabung, aber einzelne Talente, ob musikalisch, künstlerisch oder mathematisch, werden viel zu wenig gefördert.

Das heißt, vor allem bei den Gymnasien liegen derzeit die Mängel.
Keineswegs, eher im Gegenteil. Das Gymnasium ist der dritte wichtige Grund, warum das deutsche Schulsystem heute leistungsfähiger ist vor 15 Jahren. Überlegen Sie mal: Der Anteil der Abiturienten an einem Jahrgang ist rasant gestiegen. Zugleich sind die Durchschnittsleistungen am Gymnasium in der gleichen Zeit kaum schlechter geworden.

von Marc Etzold, Konrad Fischer, Lin Freitag

Woran liegt das?
Aus meiner Sicht ist der alles entscheidende Grund für ein gutes Schulwesen letztlich die Lehrerausbildung. Wenn die funktioniert, folgt daraus alles Weitere. Und die Lehrer an deutschen Gymnasien werden einfach viel besser ausgebildet als an allen anderen Schulformen.

Aber das heißt ja auch: Die schlechten Schüler bekommen die schlechten Lehrer.
Exakt. Und das ist aus meiner Sicht die größte Schwäche im gegenwärtigen System. Die Abschaffung der Hauptschule war ein guter erster Schritt, weil so zumindest einmal das Image der „Restschule“ verschwunden ist. Jetzt aber muss sich die Politik daran machen, die Lehrkräfte in den anderen Schulformen besser auszubilden und die Arbeit dort attraktiver zu machen. Stattdessen hält man sich mit teuren PR-Maßnahmen auf.

"G9 kostet nur mehr Geld, es bringt nichts"

Die jüngste heißt „G9“, die Verlängerung der Gymnasialzeit auf neun Jahre.
Allerdings, und das ist wirklich reiner Populismus. Diese Verlängerung der Schulzeit kostet allein in Bayern 400 Millionen Euro. Im Jahr! Und das bringt gar nichts.

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Na ja, die Klagen der Eltern über den engen Zeitplan waren schon unüberhörbar.
Unüberhörbar vielleicht, aber nicht berechtigt. Erst vor kurzem hat eine Studie der Mercator-Stiftung Schüler an G9-Schulen mit solchen an G8-Schulen verglichen. Die Ergebnisse waren nahezu identisch. Die G8-Schüler waren genauso gut qualifiziert, sie empfanden sogar ihren Freizeitanteil als nahezu gleich groß. Das heißt: G9 kostet nur mehr Geld, es bringt nichts.

Eine weitere Klage vieler Eltern ist die Inflation der Noten beim Abitur. Auch Populismus?
Nein, an dieser Klage ist schon etwas dran, das lässt sich ja auch objektiv belegen. Auch die Gründe dafür liegen aus meiner Sicht relativ klar auf dem Tisch. Es sind die schwächsten Bundesländer, wie Hamburg oder Bremen, die diesen Trend antreiben. Wenn es dort eine 1 für eine Leistung gibt, mit der man in Bayern gerade so eine 4 schaffen würde, dann müssen die starken Bundesländer nachziehen, auch wenn sie ein Stück weit stolz sein mögen auf ihre härtere Auslese. So setzt sich eine Spirale in Gang, deren Ende ich derzeit nicht absehen kann.

Bis irgendwann Noten als Auswahlkriterium für Universität und Unternehmen irrelevant werden und sie eigene Tests einsetzen müssen.
Soweit könnte es tatsächlich kommen, wenn man nichts dagegen tut.

Aber wie lässt sich dieser Trend stoppen?
Darauf gibt es zur Abwechslung mal eine einfache Antwort: Hier hilft nur das Zentralabitur. Doch dass sich die Länder darauf nochmal einigen werden, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.

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