Die SPD hat weiterhin große strukturelle Probleme: ihre Schwäche im Osten, ihr Unbehagen mit der Agenda 2010, die Linkspartei. Jetzt kommt Schulz und die Probleme sind nicht mehr wichtig?
Die Stimmung hat sich massiv verbessert, aber die Probleme und Konflikte bleiben. Schulz überstrahlt sie lediglich. Die Frage ist nur, ob ihm das acht Monate gelingt und ob die Wähler das mitmachen.
Was muss Schulz machen, um die Euphorie im Herbst in Wählerstimmen zu übersetzen?
Kurzfristig sollte er weitermachen wie bisher. Erst nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai sollte er inhaltlich konkret werden. Im Moment sieht es so aus, als würde Hannelore Kraft massiv von Schulz profitieren. Wenn sie Ministerpräsidentin bleibt, kann Schulz das als seinen ersten großen Sieg verkaufen. Danach kann die SPD dann ihr Programm vorlegen und die Union weiter unter Druck setzen.
Schulz sagt, in Deutschland gehe es nicht gerecht zu. Ist das das richtige Thema für ihn und die SPD?
Schulz orientiert sich am Wahlkampf von Bill Clinton aus den 90er Jahren. Es geht ihm um die hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten, aber das Gefühl haben, es gehe nicht gerecht zu im Land. Er zielt also nicht auf die Abgehängten und Enttäuschten, sondern auf die arbeitende Mittelschicht.
Objektiv geht es den Deutschen aber sehr gut.
Stimmt – und trotzdem haben viele das Gefühl, es gehe ungerecht zu im Land. Es gibt zwei Stimmungen im Land. Und genau die probiert Schulz für sich zu nutzen. Das ist clever.
Aber reicht das inhaltlich?
Nein, er muss sich zu Fragen der inneren Sicherheit klar positionieren. Und er muss sagen, ob und wie seine Partei Steuern senken will oder nicht. Er muss zu allen Themen ein Profil entwickeln. Aber dieser Gerechtigkeitsansatz trifft den Nerv der Zeit – egal ob das objektiv stimmt oder nicht.
Die SPD und die K-Frage – ein Hang zur Sturzgeburt
... der SPD-Kanzlerkandidaten hat schon oft für besondere Geschichten gesorgt. Vier Beispiele.
1998 - GERHARD SCHRÖDER: Damals konkurrieren Schröder und Parteichef Oskar Lafontaine um die Spitzenkandidatur. Entschieden wird das Rennen am 1. März bei der Landtagswahl in Niedersachsen. Der kraftstrotzende Ministerpräsident Schröder hat angekündigt, in der K-Frage zurückzuziehen, wenn er mehr als zwei Prozentpunkte verliert. Schröder aber rockt die Wahl, holt für die SPD mit 47,9 Prozent ein Plus von 3,6 Prozentpunkten. Irgendwann klingelt in Hannover ein Telefon. Schröder geht ran, es ist Lafontaine: „Na, Kandidat“, soll der Saarländer zur Begrüßung gesagt haben. Lafontaine macht den Weg für Schröder frei, bildet mit ihm im Wahlkampf eine Doppelspitze.
Schröder schlägt Kohl und wird Kanzler. Doch die Freundschaft mit Oskar zerbricht. Im März 1999 schmeißt der gekränkte Finanzminister Lafontaine hin, wird später Chef der neuen Linkspartei. „Und so resultierte aus dem Dualismus der sozialdemokratischen Doppelspitze des Jahres 1998 die Spaltung der Linken sieben Jahre später“, schreibt der Göttinger Parteienforscher und SPD-Kenner Franz Walter für den „Spiegel“.
2009 - FRANK-WALTER STEINMEIER: Am 6. September 2008, einem Samstag ein Jahr vor der Wahl, sickert durch, dass Außenminister Steinmeier bei der K-Frage zugreift. Erst heißt es noch, das sei im besten Einvernehmen mit Parteichef Kurt Beck erfolgt. Doch am Tag darauf kommt es bei der Klausur der Spitzengenossen zum Putsch vom Schwielowsee. Der glücklose Pfälzer Beck schmeißt entnervt hin, spricht von Intrigen. Franz Müntefering kehrt an die Parteispitze zurück. Dem in Umfragen populären Steinmeier geht auf der Strecke die Luft aus. Gegen Angela Merkel hat er am Ende keine Chance, die SPD stürzt mit 23 Prozent auf ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis ab.
2013 - PEER STEINBRÜCK: Auch dieses Mal kommt es anders, als es sich die Parteispitze vorgenommen hat. Drei Kandidaten stehen zur Auswahl: Ex-Finanzminister Steinbrück, Parteichef Sigmar Gabriel und Steinmeier. Ende September 2012 macht Steinmeier, der sich eine erneute Kandidatur nicht antun will, beim Abendessen mit ein paar Journalisten seinen Verzicht deutlich. Das Drehbuch, die Verkündung möglichst bis zu Beginn des Wahljahres hinauszuzögern, ist im Eimer. Gabriel, der schon damals selbst nicht will, fliegt überstürzt aus München nach Berlin zurück, um Steinbrück in der Parteizentrale zu präsentieren. Die Kür ist verpatzt, es wird ein Pleiten-Pech-und-Pannen-Wahlkampf. Steinbrück und die SPD landen bei 25,7 Prozent. Gabriel führt die SPD per Mitgliederentscheid in die große Koalition.
2017 - MARTIN SCHULZ: Monatelang zaudert Gabriel, ob er selbst Angela Merkel herausfordern soll. Sein mieses Image in den Umfragen wirkt wie einbetoniert. Viele in der Partei stöhnen, mit dem unbeliebten Goslarer werde die SPD nichts reißen. Andere Spitzengenossen wollen Gabriel vor die Wand fahren lassen, um die Partei dann neu zu ordnen. Gabriel, der bereits länger an Rückzug denkt, will allein entscheiden. Er verdonnert die Führung zum Schweigen. Am 29. Januar soll das Rätsel um die K-Frage aufgeklärt werden. Der Zeitplan hält lange, die SPD zeigt sich diszipliniert.
Es kommt der 21. Januar. In Montabaur treffen sich Gabriel und Martin Schulz. Umfrage-Liebling Schulz denkt, er wird „nur“ Außenminister. Gabriel, der zum Wohl der SPD zurückziehen will, bietet ihm Parteivorsitz und Kandidatur an. Der Ex-EU-Politiker greift zu. Gabriel weiht den mit ihm befreundeten „Stern“-Chefredakteur Christian Krug ein. Weite Teile der SPD wissen von dem spektakulären Deal noch nichts. Gabriel will die Gremien am 24. Januar informieren. Daraus wird nichts - wieder gibt es eine Sturzgeburt. Eine halbe Stunde vor einer Fraktionssitzung wird im Internet das Titelbild des neuen „Sterns“ publik: „Der Rücktritt“.
Ist die Lage mit 1998 vergleichbar? Ist Schulz ein neuer Schröder?
Möglicherweise, ich bin noch nicht ganz sicher. Helmut Kohl hatte damals gehofft, Oskar Lafontaine werde Kanzlerkandidat, den er für den einfacheren Gegenkandidaten hielt. Und dann wurde es Schröder. Genauso hatte Merkel auf Gabriel als leichteren Gegner gehofft – und sie bekam Schulz. Wir haben noch keine so ausgeprägte Wechselstimmung wie 1998, aber einen Hauch davon. Damit hatte keiner gerechnet. Insofern gibt es erste Parallelen.
Während Union und SPD Kopf an Kopf liegen, sacken Grüne, Linke und FDP ab. Woran liegt das?
Es gibt zwei starke Kanzlerkandidaten, die polarisieren. Dann haben es die kleineren Parteien schwer. Für Rot-Rot-Grün könnte es ein Nullsummenspiel werden. Schulz jagt Grünen und Linken stimmen ab und reaktiviert Nichtwähler. Das reicht aber womöglich nicht für eine linke Mehrheit.
Ihre Prognose für diesen Wahlkampf?
Seit der Zeit von Helmut Kohl habe ich es nicht mehr erlebt, dass sich die Union so schwertut, Wähler zu begeistern. Das ist sehr gefährlich für Angela Merkel. Und deswegen hat Martin Schulz eine reelle Chance – trotz all der strukturellen Probleme der SPD.