Endlich kommen sie. Die Menschen, die sich die Deutschen als Einwanderer wünschen. „Immer mehr Akademiker unter den Neuzuwanderern“, meldet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“. Sie sind jung, haben studiert und stammen zu fast drei Vierteln aus Europa. 306 000 EU-Bürger kamen im ersten Halbjahr 2012 nach Deutschland, 24 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Die Masse von ihnen stammt aus Polen (89 000) und den anderen ost- und südosteuropäischen Staaten. Aber die Zuwanderung aus Südeuropa steigt besonders stark an. Aus Griechenland kamen im ersten Halbjahr 2012 fast 16 000 Menschen (78 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum), aus Spanien 11 000 (plus 53 Prozent) und aus Portugal kamen fast 6000 (plus 53 Prozent). Es spricht viel dafür, dass diese Zahlen auch künftig wachsen werden.
Trainieren für die Willkommenskultur
Denn die Zuwanderer aus Europa werden willkommen geheißen wie ein kollektiver Messias, der Deutschland vor dem Unheil erlösen soll. Das Unheil trägt den Namen: Fachkräftemangel. Unterstützt vom Wirtschaftsministerium und Wirtschaftsverbänden trainieren sich die Deutschen daher eine „Willkommenskultur“ an. Das Goethe-Institut in Madrid richtet neue Sprachkurse ein. Mittelständische Unternehmen stärken ihre „interkulturellen Kompetenzen“. Die deutschen Handelskammern werben längst aktiv in Südeuropa um Personal: „Die Unternehmen müssen nur sagen, wen sie mit welchem Profil suchen. Dann legen unsere Leute los“, verspricht der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Hans Heinrich Driftmann.
In der deutschen Politik und den Führungsetagen der Wirtschaft herrscht Einigkeit. Da die Deutschen sich selbst nicht genug reproduzieren und sie daran nichts ändern wollen, sollen Zuwanderer die Rettung bringen. Doch so wie vor vierzig Jahren kein Anwerber von Gastarbeitern daran dachte, was sein Handeln langfristig für die deutsche Gesellschaft bedeutete, denken auch heute die Förderer der Fachkräfte-Zuwanderung kaum über die Behebung des akuten Personalmangels hinaus.
Mit Master-Zeugnis im Gepäck
Allzu große Integrationsprobleme werden die Südeuropäer - im Gegensatz zu anderen Einwanderergruppen - vermutlich nicht bereiten. 30-jährige Spanier oder Griechen mit Master-Zeugnis im Gepäck unterscheiden sich kulturell kaum von einheimischen Deutschen. Ein Problem wird diese Wanderung aber eines nicht allzu fernen Tages für die Herkunftsländer im Süden werden. Diese Länder leiden nämlich nicht nur an überbordender Staatsverschuldung, mangelnder wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und – noch – hoher Jugendarbeitslosigkeit, sondern an demselben demografischen Problem wie Deutschland.
Nur vermeintlich ein Win-Win-Geschäft
Die Krise Südeuropas kommt zumindest für die Personalabteilungen deutscher Unternehmen gerade recht. Es scheint eine einmalige Win-Win-Situation zu sein: Fast die Hälfte der Spanier unter 25 Jahren sind arbeitslos, und Deutschlands Wirtschaft kann sie gut gebrauchen.
Doch wie die meisten vorgeblichen Win-Win-Geschäfte dürfte auch die große Fachkräftewanderung im Nachhinein nicht ohne Folgeprobleme und Verlierer bleiben. Die Länder nämlich, aus denen jetzt die Hoffnungsträger der deutschen Personalabteilungen auswandern, haben mit klassischen Auswandererländern nicht viel zu tun.
Südeuropa in der Abwärtsspirale
Südeuropa ist genau wie Osteuropa längst nicht mehr das unerschöpfliche Menschenreservoir für die Industrieländer, das es im 19. und 20. Jahrhundert einmal war. Südeuropas Geburtenzahlen sind nicht höher als die deutschen. In unserem kollektiven Bewusstsein ist noch nicht angekommen, dass Spanierinnen, Italienerinnen und Griechinnen nicht mehr drei, vier oder fünf Kinder großziehen, wie zu Zeiten der Gastarbeiter-Anwerbung. Die durchschnittliche Spanierin bekommt nach einer UN-Statistik nur 1,2 Kinder, also noch weniger als die durchschnittliche Deutsche.
So nutzen Mittelständler ihre Stärken im Wettbewerb um Fachkräfte
Diese Einschätzung stimmt allerdings nur zum Teil. Auf die Frage, welche Kriterien bei ihrer Jobauswahl eine Rolle spielen, landeten ein angenehmes Betriebsklima und interessante Arbeitsinhalte an erster Stelle der Wunschliste der potenziellen Bewerber (jeweils 8,7 Punkte auf einer Skala von eins bis zehn).
Für die Studenten spielen außerdem Arbeitsplatzsicherheit (7,9 Punkte), gute Karrierechancen (7,8 Punkte) und eine gute Bezahlung (7,7 Punkte) eine wichtige Rolle bei der Auswahl ihres künftigen Arbeitgebers. Die Unternehmensgröße ist den meisten nicht so wichtig (4,3 Punkte). Auch der Standort und das Image des Unternehmens sind für viele Bewerber nicht ausschlaggebend (jeweils 6,6 Punkte).
Vieles deutet darauf hin, dass der Mittelstand und Familienunternehmen nicht stärker vom Fachkräftemangel betroffen sind als Großkonzerne. Denn fast 80 Prozent der Studenten planen, sich sowohl bei mittelständischen als auch in großen Unternehmen zu bewerben. Nur elf Prozent wollen ausschließlich bei Großunternehmen arbeiten; neun Prozent sind nur auf mittelständische Unternehmen fokussiert.
Die Studenten, die mittelständische Unternehmen als eher attraktiv bewertet haben, wurden gebeten, eine Begründung für ihre Einschätzung zu geben. Auf die (ungestützte) Frage gaben 28,8 Prozent an, dass sie kleinere und mittelständische Unternehmen besonders schätzen, weil sie familiär und weniger anonym sind und dort ein besseres Betriebsklima erwarten. Außerdem erhoffen sie sich mehr Verantwortung und Freiräume (16,4 Prozent) sowie eine größere Anerkennung ihrer Leistungen (12,3 Prozent). Elf Prozent wissen die flacheren Hierarchien und Strukturen zu schätzen. Auf diese Vorteile sollten Mittelständler und Familienunternehmen in ihrer Kommunikation mit (potenziellen) Bewerbern eingehen.
Aus Sicht der befragten Studenten könnten Mittelständler noch attraktiver werden, wenn auch die Verdienstmöglichkeiten wettbewerbsfähig sind. Das sagen 23 Prozent der Befragten. Sie glauben auch, dass Werbung, gute Öffentlichkeitsarbeit und ein informativer Internetauftritt dazu beitragen können, die Attraktivität eines mittelständischen Unternehmens zu steigern. "Daran sollten Familienunternehmen und Mittelständler arbeiten und sich – wenn nötig – professionelle Unterstützung holen", empfiehlt Dr. Peter Bartels.
Um viele Bewerbungen von hochqualifizierten Absolventen zu bekommen, sollten Unternehmen früh mit den potenziellen Bewerbern in Kontakt kommen. Das geht beispielsweise, indem sie Studenten anbieten, ihre Abschlussarbeit in Kooperation mit dem Unternehmen zu schreiben. Für über 90 Prozent der befragten Bewerber ist dieses Angebot attraktiv. Die Möglichkeit, sich intensiv kennen zu lernen, bevor ein festes Arbeitsverhältnis geschlossen wird, bieten natürlich auch studienbegleitende Praktika.
Darüber hinaus sollten Unternehmen Studenten gezielt ansprechen. Zum Beispiel über Stipendienprogramme, Recruiting-Veranstaltungen oder auf Jobmessen. "In der Kommunikation mit den möglichen Bewerbern sollten sich mittelständische Unternehmen darauf konzentrieren, die Bewerber gut zu informieren – und zwar zu den Punkten, die ihnen bei der Jobwahl am wichtigsten sind, also zu den genauen Arbeitsinhalten sowie Karriere- und Weiterbildungsmöglichkeiten", so die Empfehlung von Dr. Peter Bartels.
Allerdings müssten sich Unternehmen auch bewusst sein, sagt Bartels, dass Informationen nicht ausreichen. Sie müssen den künftigen Kollegen auch etwas bieten können: Und dazu zählen in jedem Fall ein wettbewerbsfähiges Gehalt und gute Karrierechancen.
Was die von Deutschland angetriggerte Fachkräftewanderung für die Herkunftsländer bedeutet, wird bisher noch völlig verdrängt: Die jungen Menschen, die jetzt bei deutschen Unternehmen anheuern, werden die demografischen Probleme, vor denen ohnehin alle westlichen Gesellschaften stehen, in ihren Herkunftsländern noch deutlich verschärfen. Keiner Volkswirtschaft tut es gut, wenn ausgerechnet die produktiven jungen Menschen sie verlassen.
Die Nordwanderung beraubt den Süden Europas ausgerechnet derjenigen Menschen, ohne die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sicher nicht möglich ist: Wissensarbeiter, kluge, kreative und unternehmerisch denkende Menschen. Wie soll in Spanien, ganz zu schweigen von Griechenland oder Süditalien ein Aufschwung möglich sein, wenn diejenigen fehlen, die ihn anstoßen und tragen könnten?
Süd- und Osteuropa stehen vor einer dramatischen demografischen Situation, die historisch wahrscheinlich einzigartig ist: Abnehmende Geburtenzahlen und zusätzlich Auswanderung der jungen Leistungsträger. Eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale droht.
Eine harte Probe für die innereuropäische Solidarität
Es ist ein Dilemma, das niemand sehen will. Wir hoffen einerseits als Rettungseuropäer darauf, dass der Süden (und natürlich auch der Osten) Europas möglichst schnell den Anschluss findet an die produktiven Zentren in Mittel- und Nordeuropa und dadurch irgendwann nicht mehr von deren Unterstützung abhängig sein wird. Aber gleichzeitig verschärfen wir das demografische Problem in der europäischen Peripherie, indem wir unseren deutschen Fachkräftemangel durch Anwerbung von Süd- und Osteuropäern beheben. Der Demograf Herwig Birg spricht deswegen auch von „demografischem Kolonialismus“. Indem wir die jungen Menschen anderer Länder importieren, beuten wir diese Länder demografisch aus.
Böblingen statt Pamplona
Die Wanderung, über die sich deutsche Wirtschaftsführer und Politiker jetzt freuen, könnte daher bald auch ein zusätzlicher Streitgegenstand im ohnehin angespannten Verhältnis zu den südeuropäischen Staaten werden. Deutschland erfährt schon jetzt keine Dankbarkeit für die gigantischen Unterstützungszahlungen an den Süden, sondern wachsende Ansprüche und Ressentiment. Es wird mit Sicherheit auch keinen Dank aus Lissabon, Madrid und Athen dafür ernten, dass die auswandernden Landeskinder kurzfristig die dortigen Arbeitsämter entlasten. Aber wenn Südeuropa eines Tages vielleicht wirklich wieder auf einen grünen Zweig kommen soll, und man dort merkt, dass dazu die jungen Menschen fehlen, weil sie in Böblingen statt in Pamplona arbeiten, dann werden deren Regierungen in Brüssel und Berlin vielleicht ganz neue Argumente für deutsche Zahlungen präsentieren.
Der innereuropäische Widerspruch zwischen den Prinzipien Wettbewerb und Solidarität wird durch die demographische Katastrophe also zusätzlich verschärft. Der deutsche Werbefeldzug um produktive Menschen aus Ländern, denen der Nachwuchs ebenso fehlt wie Deutschland selbst, dürfte in absehbarer Zeit nicht nur die sozialen Sicherungssysteme der Herkunftsländer, sondern auch die innereuropäische Solidarität auf eine neue, harte Probe stellen. Die Rechnung für die abgeworbenen Fachkräfte könnte für Deutschland irgendwann sehr viel teurer werden als ein paar Sprachkurse.