Politische Debatte Deutschland beutet Europa demografisch aus

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Eine harte Probe für die innereuropäische Solidarität

Es ist ein Dilemma, das niemand sehen will. Wir hoffen einerseits als Rettungseuropäer darauf, dass der Süden (und natürlich auch der Osten) Europas möglichst schnell den Anschluss findet an die produktiven Zentren in Mittel- und Nordeuropa und dadurch irgendwann nicht mehr von deren Unterstützung abhängig sein wird. Aber gleichzeitig verschärfen wir das demografische Problem in der europäischen Peripherie, indem wir unseren deutschen Fachkräftemangel durch Anwerbung von Süd- und Osteuropäern beheben. Der Demograf Herwig Birg spricht deswegen auch von „demografischem Kolonialismus“. Indem wir die jungen Menschen anderer Länder importieren, beuten wir diese Länder demografisch aus.

Böblingen statt Pamplona

Die Wanderung, über die sich deutsche Wirtschaftsführer und Politiker jetzt freuen, könnte daher bald auch ein zusätzlicher Streitgegenstand im ohnehin angespannten Verhältnis zu den südeuropäischen Staaten werden. Deutschland erfährt schon jetzt keine Dankbarkeit für die gigantischen Unterstützungszahlungen an den Süden, sondern wachsende Ansprüche und Ressentiment. Es wird mit Sicherheit auch keinen Dank aus Lissabon, Madrid und Athen dafür ernten, dass die auswandernden Landeskinder kurzfristig die dortigen Arbeitsämter entlasten. Aber wenn Südeuropa eines Tages vielleicht wirklich wieder auf einen grünen Zweig kommen soll, und man dort merkt, dass dazu die jungen Menschen fehlen, weil sie in Böblingen statt in Pamplona arbeiten, dann werden deren Regierungen in Brüssel und Berlin vielleicht ganz neue Argumente für deutsche Zahlungen präsentieren.

Der innereuropäische Widerspruch zwischen den Prinzipien Wettbewerb und Solidarität wird durch die demographische Katastrophe also zusätzlich verschärft. Der deutsche Werbefeldzug um produktive Menschen aus Ländern, denen der Nachwuchs ebenso fehlt wie Deutschland selbst, dürfte in absehbarer Zeit nicht nur die sozialen Sicherungssysteme der Herkunftsländer, sondern auch die innereuropäische Solidarität auf eine neue, harte Probe stellen. Die Rechnung für die abgeworbenen Fachkräfte könnte für Deutschland irgendwann sehr viel teurer werden als ein paar Sprachkurse.        

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