Politisches Handeln Die verführerische Macht des Mitleids

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Als das große Mitleid zum großen Terror führte

Wohin die politische Herrschaft des verallgemeinerten Mitleids im äußersten Falle führen kann, zeigt die Erfahrung der französischen Revolution. Die Terrorherrschaft des „Wohlfahrtsauschusses“ übten Männer wie Robbespierre und Saint-Just aus, die sich auf Rousseaus Lehren beriefen und die „Tugend“, also die radikale Identifikation mit den Besitzlosen zum Staatszweck erhoben.

In ihrer Untersuchung „Über die Revolution“ zeigte Hannah Arendt 1963, dass dieses kompromisslose Mitleid mit den Elenden zu einem Freund-Feind-Denken führte, das die Gesellschaft in gute, mitleidige Menschen und böse Egoisten einteilt. Wobei die Elenden nach Ansicht Rousseaus und seiner Bewunderer im Pariser "Wohlfahrtsausschuss" per se unverdorbene, also gute Menschen waren.

Dieses Mitleid, gerade weil es die Güte schlechthin und der Inbegriff des Moralischen zu sein scheint, zeigt, je mächtiger es wird, eine umso größere Tendenz zur Abschottung gegen jeglichen Einwand. Die radikalsten Mitleidigen, die Jakobiner um Robbespierre, erklärten diejenigen, die in ihren Augen nicht mitleidig genug waren, zu „Feinden des Volkes“ und schickten sie zu Tausenden auf die Guillotine.  

Das Freund-Feind-Denken der Mitleidspolitik zeigt sich in sehr viel milderer Form auch heute. Es äußert sich in der Verwischung von Verantwortlichkeit und haltloser Kritik an denen, die man für mitleidlos und damit böse hält: Zum Beispiel in dem immer lauter werdenden Vorwurf von Politikern und politischen Aktivisten, das Grenzregime der EU-Staaten trage die Verantwortung für den Tod der zahlreichen ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer - und nicht etwa die Menschenschmuggler, die ihren Kunden Geld dafür abknüpfen, dass sie sie auf seeuntüchtige Boote packen. Wer nicht genug Mitleid mit den Elenden zeigt, soll also für das Elend oder gar den Tod der Elenden mitverantwortlich sein.

Das Mitleid, so Arendts höchst aktuelle Schlussfolgerung, wirkt auf solche Weise also zersetzend auf politische Ordnungen, weil es den emotionsfreien, weltlichen Raum zwischen den Menschen zerstört, in dem Politik in einer freien Gesellschaft stattfindet. Wer das Mitleid mit den Besitzlosen zum Kriterium guter Politik schlechthin erhebt, der bestreitet bald auch den Besitzenden ihr legitimes Recht zur Vertretung ihrer Interessen.  

Ist das ein Plädoyer zur Ausmerzung des Mitleids? Nein, im Gegenteil. Das Mitleid ist eine der schönsten menschlichen Regungen. Die Fähigkeit, im leidenden Mitgeschöpf sich selbst zu erkennen, fremdes Leid zu beenden oder zumindest zu lindern, ist vielleicht, wie Schopenhauer glaubte, der einzige Ausweg aus der von Willen und Wahn konstruierten Leere unserer Existenz. Aber dieses Mitleiden ist etwas Privates, das in der Politik nicht gedeiht, sondern durch sie verkommt. Für tätiges Mitleid und Nächstenliebe bleibt in den kleinen Lebenskreisen ein unendlicher Raum des Menschenmöglichen.

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