Politisches Handeln Die verführerische Macht des Mitleids

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Hannah Arendt und die Perversion des Mitleids

Der Papst meint: Der Kapitalismus ist „an der Wurzel ungerecht“. Wirtschaftliche Freiheit braucht Grenzen. Unser Autor meint hingegen: Kapitalismus braucht keine Moral, nur gute Gesetze.
von Dieter Schnaas

Ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Interessen aller seiner Bürger, reicher wie armer, einheimischer wie zugewanderter, als grundsätzlich legitim gelten. Wenn es aber fast unmöglich wird, bestimmte Interessen zu vertreten, weil man dadurch als mitleidloser, also böser Mensch dasteht, dann nimmt die freiheitliche Diskurs-Kultur Schaden.

Zusätzlich erschwert wird der Diskurs noch durch eine politischen Rhetorik, die Mitleid oft mit Solidarität verwechselt. Aber der Unterschied ist ein grundsätzlicher: Solidarität beruht auf gegenseitiger Verantwortung und Verpflichtung in einer Gemeinschaft von freien, gleichberechtigten Mitgliedern. Mitleid ist eine Einbahnstraße. Der Mitleidige steht automatisch über dem Bemitleideten. Solidarität wird demokratisch ausgehandelt, Mitleid wird paternalistisch gewährt. Solidarität ist seinem Wesen nach eine politische Institution. Mitleid ist eigentlich unpolitisch, wie alle Gefühle, eine Privatangelegenheit.

Was die Menschen vom Kapitalismus halten

Wie konnte dieses intime Gefühl derart politisiert, also zu einer öffentlichen Angelegenheit werden? Weil es sich verändert hat. Hannah Arendt, die große Wünschelrutengeherin der politischen Theorie, sah im öffentlich gewordenen Mitleid eine Perversion des ursprünglichen, menschlichen, christlichen Mit-Leidens, der Anteilnahme am Elend des anderen. Das Mitleid, so wie es heute nicht nur empfunden sondern auch öffentlich bekundet wird, ist nämlich durchaus kein Leid. Es ist nicht dasselbe Gefühl, wie das christliche Mitleiden, an dem niemand mehr litt als sein größter Kritiker: Friedrich Nietzsche, der in Turin einem gequälten Droschkengaul weinend um den Hals fiel.

Das Mitleiden, das den sensiblen Pfarrersohn Nietzsche quälte, ist immer an den unmittelbaren Anblick des konkreten Leids eines Einzelnen gebunden. Hirnforscher können diese Fähigkeit seit einigen Jahren sogar physiologisch verorten: in den so genannten Spiegel-Neuronen. Nervenzellen also, die beim Betrachten eines Vorgangs bei anderen das gleiche Aktivitätsmuster zeigen wie bei dessen Ausführung.

Mit diesem Mitleiden verbunden ist die Nächstenliebe, die Jesus fordert. Er predigt Güte und Liebe zum Nächsten, aber verlangt nicht, alle Leidenden in aller Welt zu lieben, und das Elend der Welt auszurotten.

Das forderte erst Rousseau. Sein Mitleid ist ein abstraktes Gefühl, das sich nicht auf konkrete Menschen, sondern auf unpersönliche Kollektive richtet: Die Armen, die Unterdrückten. Dahinter steht seine Überzeugung, dass das Eigentum die Menschen verdirbt, und dass also die Armen die moralisch besten Menschen seien. Und das Mitleid mit ihnen ist, wie Rousseau feststellt, „ein so wonniges Gefühl, dass es nicht wunder nimmt, wenn man es zu zeigen sucht.“

Hannah Arendt hat das rousseausche Mitleid als Perversion des Mitleidens entlarvt, weil es dem Mitleidigen kein Leid, sondern Befriedigung bereitet. Er versichert sich seiner moralischen Gutartigkeit, indem er Partei für die unverdorbenen Armen nimmt – aber ohne dem Elend persönlich nahe kommen zu müssen. Ohne selbst mit zu leiden. Das ist das Paradoxon des politischen Mitleids: Der Mitleidige hat ein heimliches Interesse daran, dass es menschliches Leid gibt und dass es weiterhin besteht.

Mitleid ja, aber konkret helfen sollen andere

Eine jüngere Umfrage des Alllensbach-Instituts belegt das rousseausche, abstrakte Mitleid der Deutschen: 66 Prozent behaupten, sich vorstellen zu können, Asylbewerber zu unterstützen. Aber nur fünf Prozent haben tatsächlich persönlichen Kontakt zu ihnen. Wovon fast die Hälfte nicht selbst, sondern nur durch die eigenen Kinder in Kontakt zu Asylbewerbern kommt. Nur ein Prozent der Deutschen hilft Asylbewerbern persönlich. Im Vergleich zu einer Umfrage von 1986 sind die Kontakte sogar weniger geworden.

Das heißt: Man stellt sich vor, zu helfen – aber das reicht dann auch fürs gute Gefühl. Vielleicht unterzeichnet man einen Aufruf „Rettet…!“ und spendet ein paar Euro. Aber zu nahe lässt man das Leid lieber nicht kommen. Sonst besteht schließlich die Gefahr, dass aus dem wonnigen Gefühl des abstrakten Mitleids mit allen Elenden dieser Welt das gar nicht so wonnige Mit-Leiden mit dem Nächsten, nämlich dem konkreten Menschen im Asylantenheim wird. 

Wie praktisch, dass es jemanden gibt, der dem Mitleidigen zu Hilfe kommt und ihm die lästige Aufgabe praktischer Hilfe abnimmt: der Staat und Nichtregierungsorganisationen, die das Mitleid zu einem professionellen, also unpersönlichen Geschäft gemacht haben, und darauf angewiesen sind, dass das Mitleid der Wähler und Spender nicht aufhört.

 

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