Wolfgang Hinze staunte nicht schlecht, als Mitte Januar ein Anwaltsschreiben des Fahrstuhlherstellers Otis auf seinem Tisch lag. Der oberste Richter für Handelssachen am Landgericht (LG) Berlin behandelt einen schweren Fall von Wirtschaftskriminalität. Jahrelang hatten Hersteller die Preise für Aufzüge und Rolltreppen an Bahnhöfen abgesprochen, Geschäftsgebiete und Marktanteile untereinander aufgeteilt. Hinze sollte über die Höhe des Schadensersatzes urteilen. Doch das „Verhalten des Herrn Vorsitzenden“, so heißt es in dem Schreiben von Otis, gebe Anlass zur „Besorgnis der Befangenheit“. Richter Hinze, so der Vorwurf, habe sich auf die Seite der Kläger geschlagen. Daher die Forderung: „Der Herr Vorsitzende“ möge doch bitte vom Fall abgezogen werden.
Hinze dagegen meint, er habe nur seine Arbeit getan, um „Waffengleichheit“ herzustellen, wie er in seiner Erwiderung schreibt, die der WirtschaftsWoche vorliegt. Deswegen habe er im Sommer vergangenen Jahres Akten bei der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf bestellt, die vor vielen Jahren Zeugen des Aufzugskartells befragt und Ermittlungen angestrengt hatte. Amtshilfe, nichts Ungewöhnliches. So sollten die geschädigten Städte und Nahverkehrsunternehmen erkennen können, in welchen Bahnhöfen überteuerte Rolltreppen und Fahrstühle eingebaut wurden. Für Otis ist das jedoch ein eindeutiger Beweis der Parteinahme.
Dass Otis das seit Jahren laufende Verfahren mit einem Befangenheitsantrag nun weiter in die Länge zieht, zeigt jedoch, wie verzweifelt die Unternehmen gegen die Übermacht der Gerichte inzwischen geworden sind. Seit Jahren setzen die Behörden bei Preisabsprachen und Marktmanipulationen nicht nur hohe Strafen gegen die Übeltäter fest. Sie ziehen auch bei der Ermittlung des Schadensersatzes die Daumenschrauben an. Immer dann, wenn die Unternehmen sich mit juristischen Kniffen aus der Affäre ziehen wollen, wird es für sie noch schlimmer.
Ein Beispiel dafür ist das Aufzugskartell, das von 1995 bis 2003 in Europa sein Unwesen trieb. Die Schuldfrage ist längst geklärt. Die Europäische Kommission hat die Hersteller Otis, ThyssenKrupp, Schindler und Kone bereits 2007 zu einer Strafe in Höhe von 831 Millionen Euro verdonnert, nachdem ein Tippgeber das Kartell 2003 auffliegen ließ. Nun fordern Städte wie Essen, Nürnberg, Dortmund, Bielefeld und Köln sowie die Deutsche Bahn, die Berliner Verkehrsbetriebe und die Hamburger Hochbahn Schadensersatz in Höhe von rund 90 Millionen Euro.
Kartellbehörden ködern Straftäter
Anfangs noch ködern die Kartellbehörden die beteiligten Kartellstraftäter mit aussichtsreichen Versprechen. So kann ein Unternehmen, das ein Verfahren ins Rollen bringt, straffrei ausgehen. Den anderen Übeltätern gewähren die Behörden zumindest Strafminderung, wenn sie umfänglich kooperieren. Einzige Voraussetzung: Die Unternehmen müssen sich blank machen, Interna ausplaudern und die Preismanipulationen detailliert schildern. Das Kartellrecht sichert den Unternehmen zu, dass die Geschäftsgeheimnisse vertraulich bleiben und die Ermittlungsakten für Außenstehende verschlossen bleiben. Im Falle des Aufzugskartells hat die EU-Kommission auf Dutzenden Seiten Marktanteile, Einzelumsätze, Lieferantenstruktur und konkrete Vertragskonditionen umfangreich dokumentiert – hochsensible Daten.
Doch der Schutz des Kartellrechts erweist sich inzwischen als brüchig. Richter des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm entschieden Ende 2013, dass die vier Unternehmen Otis, ThyssenKrupp, Schindler und Kone die Aufarbeitung des Falls so lange hinausgezögert hätten, dass sich der Schutz der Geschäftsgeheimnisse erübrigt habe. „Im Hinblick auf das mittlerweile eingetretene Alter der diesen Dokumenten zugrunde liegenden Informationen von mindesten knapp zehn Jahren“, heißt es in der Entscheidung, sei „der Grad der Vertraulichkeit dieser Informationen eher gering“. Einblick in die Akten für Geschädigte sei also berechtigt.
Um noch eins draufzusetzen, beantwortete das OLG auch jene Frage: Sind Absprachen über Preismanipulationen Betriebsgeheimnisse? Nein, so das Urteil. Es könne sich dabei nur um „die detaillierte Darstellung ordnungswidrigen Handelns“ handeln – und das ist wenig schützenswert.
Die Richter treiben die Unternehmen mit ihren Entscheidungen immer mehr in die Enge. Selbst indirekt Benachteiligte statten sie mit hohen Klagerechten aus.
Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) beispielsweise kauften die Aufzüge für ihre Bahnhöfe weder von Otis, ThyssenKrupp, Schindler noch Kone. Doch im „Windschatten der Machenschaften dieses Kartells“ waren auch sie betroffen, argumentiert die Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), Juliane Kokott, in ihrem Schlussantrag vor drei Wochen. Der Oberste Gerichtshof in Wien hatte den Fall an den EuGH verwiesen, der in der Regel den Schlussanträgen der Generalanwälte folgt. Die Kartellsünder sehen sich nun weiteren Klagen gegenüber.
Auch bei der Frage, ob die Europäische Kommission als Kartellbehörde gleichzeitig Schadensersatz fordern kann, wenn diese im Strudel von Preismanipulationen benachteiligt wurde, wählte der EuGH die härtere Gangart. Dummerweise hatten die vier Aufzughersteller nämlich der Kommission Aufzüge zu teuer verkauft. Der EuGH entschied 2012: Die Kommission darf Richter und Kläger in einem sein.
Keine Verteidigungsstrategie zu peinlich
Bei der Gemengelage erstaunt es umso mehr, dass Otis bei seiner Verteidigungsstrategie kein Mittel zu peinlich ist. Nun setzen die Verteidiger also auf die zweifelhafte Nummer der Befangenheit. Der Richter gilt Otis zufolge als Komplize von Deutsche Bahn, Nahverkehrsbetrieben und Stadtverwaltungen. Deren Vertreter schütteln den Kopf über die „juristischen Winkelzüge“, sagt ein Beteiligter. Man sei auf das „Schlammschlacht-Niveau“ abgesunken. Bei Otis wollte man „laufende Verfahren grundsätzlich nicht kommentieren“.
Die Kartellunternehmen tun sich mit ihrer Taktik so oder so keinen Gefallen. Denn den eigentlichen Schaden schätzen die betroffenen Städte und Bahnen auf nur rund 46 Millionen Euro. Jeden Tag wird der Betrag aber mit einem hohen einstelligen Prozentsatz verzinst – eine „gute Geldanlage“, heißt es aus Kreisen der Geschädigten. Inzwischen übersteigt die Zinsbelastung den Schaden. Hinzu kommen Forderungen aus Österreich, Belgien und den Niederlanden. Europaweit könnten die vier gezwungen werden, Schadensersatz von bis zu 200 Millionen Euro zu zahlen.
Vielleicht greifen die Unternehmen dann auch dort noch zu bemerkenswerten Argumenten. Der Nachweis, ob „der Herr Vorsitzende“ am Landgericht Berlin „tatsächlich befangen“ sei, sei ohnehin „nicht erforderlich“, heißt es in dem Antrag von Otis. Bereits der „böse Schein“ reiche aus. „Es ist allein entscheidend, ob eine vernünftig denkende Partei Anlass zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des Richters hätte.“