Rainer Wendt "Ernsthafte Strafverfolgung findet in Deutschland meist gar nicht statt"

Staatsanwälte zwingen die Polizei, Mehrfachtäter wieder laufen zu lassen, Richter sprechen lasche Urteile, das Vertrauen in den Rechtsstaat erodiert. Polizeigewerkschaftschef Rainer Wendt sieht „Deutschland in Gefahr“.

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Polizeigewerkschaft: Die Polizei ist überlastet. Quelle: dpa Picture-Alliance

WirtschaftsWoche: „Das Gewaltmonopol des Staates schmilzt wie Eis in der Sonne“, stellen Sie in Ihrem aktuellen Buch „Deutschland in Gefahr“ fest.

Wendt: Die Anzeichen dafür liest man in kleinen lokalen Meldungen. In der Türsteherszene ist es fast schon üblich, kriminelle Kids einfach zu verprügeln, um sie zu vertreiben. Auch in Schwimmbädern wurden Täter, die Mädchen begrapscht haben, schon verprügelt. Die Zahlen für den so genannten Kleinen Waffenschein haben sich vervielfacht, das Gewerbe für Pfefferspray blüht. Solche Meldungen deuten darauf hin, dass die Menschen nicht mehr darauf vertrauen, dass der Staat sie beschützt, sondern das selbst in die Hand nehmen.

Man kann ihnen das kaum übelnehmen, denn wir als Polizei müssen uns ja meist darauf beschränken, die Personalien der Täter festzustellen.

Rainer Wendt. Quelle: dpa Picture-Alliance

Warum greift die Polizei nicht härter durch?

Weil wir es nicht dürfen. Die Herrin eines Strafverfahrens ist die Justiz. Die Staatsanwaltschaft entscheidet: Ja, diesen Täter sperren wir jetzt mal weg. Das tut sie aber viel zu selten. Wir Polizisten dürfen jemanden nur festnehmen, wenn ein so genannter Haftgrund vorliegt, also Flucht- oder Wiederholungsgefahr. Wenn ein Täter einen festen Wohnsitz hat, kommt er in aller Regel nicht in Untersuchungshaft. Auch eine Asylbewerberunterkunft gilt als fester Wohnsitz. Das ist natürlich Unsinn. Vom Gesetzgeber gemeint ist damit eine soziale Einbindung. Aber niemand kann mir erzählen, dass eine Erstaufnahme eine Bindung bedeutet für jemanden, der zuvor durch die halbe Welt gewandert ist. Aber selbst wenn jemand in Untersuchungshaft genommen wird, findet eine ernsthafte Strafverfolgung meist gar nicht statt.

Also liegt es nur an der Justiz, dass der Rechtsstaat so schwach erscheint? 

Nein, natürlich auch an der Politik, die keine Haftplätze zur Verfügung stellt. Denn selbst wenn Polizei und Justiz Hand in Hand arbeiten würden und endlich die Intensivtäter einsperren wollten, wären dafür gar nicht genug Haftplätze vorhanden. Und genügend Richter und Staatsanwälte gibt es auch nicht, da fehlen mittlerweile Tausende Beschäftigte, auch in der Justiz und im Strafvollzug.

Also müssten wir mehr Gefängnisse bauen?

So ist es. In ganz Berlin gibt es keinen einzigen Haftplatz mehr für die Auslieferungshaft. Die sollte eigentlich sicher stellen, dass jemand, der abgeschoben werden muss, nicht einfach verschwindet. Wenn ein abgelehnter Asylbewerber, gegen den ein Abschiebehaftbescheid vorliegt, jetzt auf einer Polizeiwache abgeliefert wird, müssen die Beamten den entlassen. Das ist schon seit Jahren so. Die nordafrikanischen Intensivtäter in Köln und Düsseldorf, die wir schon lange kennen, erleben immer dasselbe: Wenn die Polizei nach einer Straftat kommt, nimmt sie meine Personalien auf – beziehungsweise die Angaben, die ich mache – und dann lassen die mich wieder laufen. Spätestens tut das der Richter.

"Diese Leute lachen über die Justiz"

Über die laschen Urteile deutscher Richter klagen Sie besonders in Ihrem Buch.

Unsere Richter legen leider an einen nordafrikanischen Intensivtäter oft dieselben Maßstäbe an wie an einen fehlgeleiteten deutschen Jugendlichen. Die verhängen dann immer wieder Strafen auf Bewährung oder nur Ermahnungen. Diesen Richtern ist nicht klar, dass die Leute, die sie so milde verurteilen, mit ihren Rechtsbegriffen überhaupt nichts anfangen können. Woher soll ein junger Mann aus Eritrea wissen, was „Bewährung“ bedeutet? Wenn Sie oder ich wegen Steuerhinterziehung eine Bewährungsstrafe bekommen, trauen wir uns danach noch nicht mal, bei „Rot“ über die Ampel zu gehen.

Aber ein Marokkaner nimmt das anders wahr. Bei dem kommt an: Die Deutschen sind irgendwie komisch. Ich kann hier zehn Straftaten an einem Tag begehen, werde immer wieder festgenommen – und immer wieder laufen gelassen. Wenn es dann wirklich zum Gerichtstermin kommt, stehen vierzig Straftaten auf der Liste, angeklagt wird er nur wegen dreien.

Buchcover Rainer Wendt: Deutschland in Gefahr. Quelle: Riva-Verlag

Wieso?

Aus „prozessökonomischen“ Gründen. Weil das Gericht einfach nicht genug Zeit hat. Am Ende kriegt er vielleicht eine Geldstrafe von 1000 Euro. Das ist für ihn eine Tageseinnahme auf dem Bahnhofsvorplatz. Diese Leute lachen über die Justiz. Die fragen uns Polizisten manchmal sogar: Wie kann das sein, dass ich nicht ins Gefängnis muss? In Hamburg wurde in monatelanger Arbeit eine Einbrecherbande mit etwa 40 Mitgliedern ermittelt. Die wurden der Reihe nach abgeurteilt und kein einziger ging in den Knast, auch mit 19 Vorstrafen nicht. Ich frage mich, warum sich die afrikanischen Drogendealer vom Görlitzer Park in Berlin oder die nordafrikanischen Intensivtäter vom Düsseldorfer Hauptbahnhof so oft gegen Festnahmen wehren – mit oft unangenehmen Folgen für die Polizisten. Denn spätestens beim Richter ist die Strafverfolgung meist ohnehin vorbei.

Wie fühlen sich die Polizisten da?

Veräppelt. Die Kollegen fragen sich wirklich oft, was sie da überhaupt tun. Auch in der Polizei erodiert der Glaube an den Rechtsstaat. Aber am schlimmsten sind die Botschaften dieser Urteile in die kriminellen Gemeinschaften: „Macht euch keine Sorgen, begeht ruhig Straftaten.“ Wir haben eine Justiz, die die Signalwirkung der Urteile, die sie im Namen des Volkes spricht, überhaupt nicht erfasst.

Kommen wir auf die Silvesternacht zu sprechen. Da wäre es darum gegangen, Straftaten und Gewalt gegen Bürger zu verhindern. Warum haben die anwesenden Polizisten so zaghaft eingegriffen?

Die Beamten haben sich nicht zurückgehalten, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles getan. Aber sie waren viel zu wenige und vom Ausmaß des Geschehens völlig überrascht. Manche Politiker wussten hinterher natürlich wieder mal alles besser. Das Phänomen des „Antanzens“ gab es bis dahin nur im Zusammenhang mit Raub und Diebstahldelikten. Opfer in der Gruppe zu Umringen, um sexuelle Gewalt auszuüben, und das zu Tausenden, war neu. Solche Phänomene sind bei Großveranstaltungen in deutschen Städten mittlerweile an der Tagesordnung.  Wir  erleben jetzt Volksfeste mit über Tausend Einsatzkräften, um solche sexuellen Übergriffe zu verhindern. Früher war da vielleicht mal eine Hundertschaft vor Ort, die sich um den Verkehr kümmerte und bei vereinzelten Schlägereien eingriff.

Die Belastungen für die Polizei sind also größer geworden?

Ja. Wir haben nicht nur die Flüchtlingskrise, die Einbruchszahlen schnellen in die Höhe, neue Kriminalitätsformen haben sich etabliert, die Fußballkrawalle werden wieder heftiger, es entwickelt sich ein brutaler Rockerkrieg, einen sich aufschaukelnden Extremismus von Rechts und Links, Türken und Kurden, afrikanische Clans, Salafisten. Alle drehen sich im Kreis und schaukeln sich langsam in die Höhe. Dadurch wachsen die  Überstunden der Polizisten unermesslich. Allein in Nordrhein-Westfalen 1,9 Millionen im vergangenen Jahr. Das zeigt, dass die Personalstruktur der Polizei immer so geschnitten war, dass nichts Außergewöhnliches passieren darf. Aber genau das ist jetzt passiert, mit Hunderttausenden Menschen, die in unser Land gekommen sind. Jetzt will die Politik 15 000 neue Stellen bei der Polizei schaffen und feiert sich dafür. Doch zuvor sind 17.000 Stellen eingespart worden. Wir bräuchten eigentlich 50.000 neue Polizisten, tarifbeschäftigte Einsatzassistenten und Beschäftigte in den Nachrichtendiensten.

Integration, Kriminalität und Nachwuchs

Wie sieht es mit der Kriminalität unter den zuletzt eingereisten Flüchtlingen aus?

Natürlich fällt nur eine kleine Minderheit, vielleicht ein paar Tausend, durch Kriminalität auf. Schlimm ist aber, dass man sofort in der rechten Ecke steht, wenn man auf die hinweist. Ja, es sind meistens traumatisierte Menschen, die vor Krieg, Terror und Gewalt geflohen sind, aber es sind eben auch Extremisten, Gewalttäter, Diebe, Räuber, Grabscher und Vergewaltiger dabei, die überhaupt nicht daran denken, sich auch nur ansatzweise an unsere Rechtsordnung zu halten oder sich zu integrieren und das muss man endlich auch zur Kenntnis nehmen, statt diejenigen immer wieder zu beschimpfen, die darauf hinweisen.

Manche Politiker wollen immer nur den braven syrischen Bäcker-Lehrling sehen und nicht zur Kenntnis nehmen, dass unter den Flüchtlingen auch Kriminelle sind, die sich weder integrieren noch hier arbeiten wollen. Über die muss man reden. Aber Frau Merkel hat noch kein einziges Mal auf diese Kriminellen hingewiesen. Sie beschwört mantraartig die Erfolge der Integration.

Für Politiker ist es vermutlich attraktiver, Integrationsangebote zu präsentieren als die harte Hand der Polizei.  

Aber gegen beispielsweise nordafrikanische Intensivtäter oder ausgebildete Terrorkämpfer hilft kein Sprachkurs bei der Caritas. An einer immer engmaschigeren Betreuung der Flüchtlinge sind natürlich vor allem Sozialverbände und Sozialunternehmen interessiert, die da gerne abkassieren. Auch die gesamte linke Szene stampft ein steuerfinanziertes Projekt nach dem anderen aus dem Boden. Der Fahrlehrerverband behauptet, dass natürlich alle Flüchtlinge einen Führerschein brauchen, um integriert zu sein. Es ist klar, auch da soll Kasse gemacht werden. Manche Sozialarbeiter wollen eine Eins-zu-Eins-Betreuung für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, während nachts auf der Pflegestation im Seniorenheim eine unterbezahlte Nachtschwester sich um 50 Menschen kümmern muss. Klar, dass bei vielen Menschen der Zorn wächst.

Zurück zur Polizei. Haben Sie eigentlich Nachwuchssorgen?

Wir haben noch genug Bewerber, der Polizeiberuf ist für viele junge Frauen und Männer glücklicherweise noch erstrebenswert. Aber wir können nicht alle nehmen, wir wollen, dass die Standards hoch bleiben. Dafür müssten wir eigentlich rund acht Leute testen, um einen einzustellen. In manchen Bundesländern bricht der Bewerbermarkt auch ein. Es gibt einen gnadenlosen Wettbewerb mit großen Besoldungsunterschieden zwischen den Ländern. Das hat uns die Föderalismusreform eingebrockt, auch so ein abgrundtief dummes Gesetz.

Die Grünen fordern jetzt eine Migrantenquote für die Polizei.

Das ist der typische Wahlkampfblödsinn, das muss man nicht ernst nehmen. Die Polizei bemüht sich seit Jahren überall in Deutschland darum, auch solche Bewerberinnen und Bewerber für den Polizeiberuf zu gewinnen, die ausländische Wurzeln haben. Wer die Voraussetzungen erfüllt, ist uns sehr willkommen, ich kenne sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die tolle Arbeit leisten. Das kann man aber nicht durch Quoten festlegen. Vor Eintritt in die Polizei gibt es ein aufwändiges Auswahlverfahren, in dem vielfältige Qualifikationen getestet werden. Vielleicht sollten die Grünen für sich auch mal ein Auswahlverfahren entwickeln, dann hätten wir dort vielleicht ein anderes Spitzenpersonal.

Sie kritisieren in Ihrem Buch die vielen Polizeireformen der letzten Jahre.

Die Unternehmensberater haben den Politikern – für viel Geld – eingeredet, dass der öffentliche Dienst sich an der Privatwirtschaft orientieren müsse. Da wurde auf einmal der Bürger zum Kunden erklärt. Wir sollten nicht nur „Zielvereinbarungen“ abschließen, sondern auch „produktorientiert“ arbeiten.

Private Sicherheitsdienste

Was ist denn das Produkt der Polizei?

Eine Unfallaufnahme beispielsweise. Völliger Quatsch. Der größte Unsinn war aber, dass die Berater behauptet  haben, dass es unproduktiv sei, Streife zu fahren. Da sind dann viele Planstellen gestrichen worden. Alle Politiker wollen jetzt die Präsenz der Polizei erhöhen. Aber genau daran ist zuvor gespart worden.

Apropos Privatunternehmen. Sicherheitsfirmen erleben derzeit einen Boom. Können die der Polizei tatsächlich Arbeit abnehmen?

Private Sicherheitsdienste haben ihre Existenzberechtigung, wenn es um den Schutz von privaten Räumen, Unternehmen, den Innenbereich von Großveranstaltungen geht. Aber Polizeiaufgaben müssen bei der Polizei bleiben. Allerdings müssen sie nicht immer von Vollzugsbeamten erledigt werden. Wenn Sie in Nordrhein-Westfalen einen kleinen Autounfall haben, kommen zur Aufnahme zwei Kommissare. Das müsste nicht sein. Solche Aufgaben könnten so genannte Einsatzassistenten übernehmen, also Tarifbeschäftigten mit einer kürzeren Ausbildung. Aber es bleibt in jedem Fall eine Polizeiaufgabe, denn wir sammeln wichtige Erkenntnisse für die Unfallforschung, die würden verloren gehen, wenn wir das nicht mehr machen. 

Hat sich die öffentliche Wertschätzung der Polizei in letzter Zeit gebessert?

Die Politiker überschlagen sich im Moment, was Personalforderungen angeht. Sogar die Grünen wollen mehr Polizisten und die FDP will auf einmal Video-Überwachung. Besonders glaubwürdig ist das alles nicht. Die ganzen Listen, die Innenpolitiker jetzt erstellen, sind Listen der Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte. In der Bevölkerung hat die Wertschätzung der Polizei eher zugenommen. Aber in manchen kriminellen Milieus hat der Respekt vor uns abgenommen.

Was ist von den Plänen zu halten, die Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei einzusetzen?

Es hat niemand etwas dagegen einzuwenden, wenn die Bundeswehr im Rahmen der Verfassung uns in besonderen Fällen hilft, zum Beispiel technische Lücken zu schließen. Aber eine Reserve für eine kaputt gesparte Bereitschaftspolizei sollte die Bundeswehr nicht sein. Es ist schon perfide, erst Sicherheitslücken entstehen zu lassen, um dann nach der Bundeswehr zu rufen. Besser wäre es, endlich für die Mobilität der Bereitschaftspolizei zu sorgen. Bei großen Einsätzen ist es entscheidend, schnell Kräfte verlegen zu können. Uns fehlt noch immer Ersatz für zwei Hubschrauber, die vor drei Jahren bei einem Unfall verloren gingen. Die Mittel dafür stehen noch immer nicht im Haushalt des Bundesinnenministeriums. Auch bei den Fahrzeugen unserer Hundertschaften drohen schon bald drastische Defizite. Wenn das so weiter geht, müssen Bereitschaftspolizisten demnächst mit der U-Bahn zum Einsatz fahren, nur weil der Bundesinnenminister nicht das Geld zur Verfügung stellt, wozu er sich verpflichtet hat.

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