Clausnitz, Heidenau, Freital – das sind nur einige der Orte in Ostdeutschland, in denen es schon zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen kam. Vergangene Woche eskalierten in Bautzen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremisten und jungen Flüchtlingen. Die Stadt in Ostsachsen war schon in der Vergangenheit wegen rechter Umtriebe in die Schlagzeilen geraten. Entsprechend aufgeregt fielen die Reaktionen auf den neuerlichen Vorfall aus.
Sogar der ARD-Polittalk „Anne Will“ widmete sich dem Thema am Sonntagabend. Unter der Überschrift „Eskalation in Bautzen – Was steckt dahinter?“ versuchten die Teilnehmer der Gesprächsrunde, darunter auch die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), Antworten zu geben. Schwesig räumte ein, dass es ein Problem mit Rechtsextremismus gebe, allerdings, wie sie hinzufügte, „in ganz Deutschland“.
Der Einschätzung Schwesigs dürfte in ihrer Allgemeinheit kaum jemand widersprechen. Das Bundesinnenministerium zeichnet allerdings ein etwas anderes, differenzierteres Bild. Danach strahlt insbesondere Ostdeutschland offenbar eine besondere Anziehungskraft auf Rechtsextreme aus. Die Ansicht fußt auf Erkenntnissen der Bundesregierung, die aus der Antwort des Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervorgehen. „Schwerpunkte von Rechtsextremisten in ländlichen Regionen liegen vor allem in Ostdeutschland, aber auch in einigen wenigen Regionen der westlichen Länder“, heißt es in der Antwort, die dem Handelsblatt vorliegt.
Teilweise kann demnach sogar das Phänomen beobachtet werden, „dass es Orte gibt, in denen ein zahlenmäßig erhöhtes rechtsextremistisches Personenpotenzial lebt“, konstatiert das Ministerium. „Lokal konzentrierte Ansiedlungen von Personen, die dem rechtsextremistischen Spektrum zugerechnet werden können, sind der Bundesregierung in der Ortschaft Jamel und dem Landkreis Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern bekannt.“
Das Ministerium erwähnt in diesem Zusammenhang auch die sogenannten „völkischen Siedler“, nach denen die Linksfraktion explizit gefragt hat. Allerdings betont das Ministerium, dass die völkische Siedlerbewegung kein Beobachtungsobjekt des Bundesverfassungsschutzes sei und derzeit auch „keine Erkenntnisse zu einer gezielten Strategie von Rechtsextremisten zu ländlicher Siedlertätigkeit“ vorlägen.
Die Sprüche der AfD
Ob Flüchtlingspolitik oder Fußball - mit markigen Sprüchen sorgen führende AfD-Politiker immer wieder für Kopfschütteln und Empörung, wie jetzt die stellvertretende Bundesvorsitzende Beatrix von Storch. Einige Zitate.
Quelle: dpa
„Das ist ungefähr so, als würden Sie mit Plastikeimern einen Tsunami stoppen wollen.“ (Der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen am 24. Oktober 2015 bei einem Landesparteitag in Baden-Württemberg über die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bewältigung der Flüchtlingskrise)
„Im 21. Jahrhundert trifft der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp.“ (Der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke am 21. November 2015 in einem Vortrag über Asylbewerber aus Afrika)
„Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer. Und gegen Angriffe müssen wir uns verteidigen. (...) Es gibt keinen Grund, mit Gewalt unsere Grenze zu überqueren.“ (Die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Beatrix von Storch Ende Januar 2016 auf ihrer Facebook-Seite über Flüchtlinge)
„Ich will das auch nicht. Aber zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Waffengewalt.“ (Die AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry in einem Interview des „Mannheimer Morgen“ vom 30. Januar 2016. Angesichts des Flüchtlingszustroms forderte sie im Notfall auch den Einsatz von Schusswaffen.)
„Wir müssen die Grenzen dichtmachen und dann die grausamen Bilder aushalten. Wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen.“ (Gauland am 24. Februar 2016 im Magazin der Wochenzeitung „Die Zeit“ über Flüchtlinge)
„Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ (Gauland in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 29. Mai 2016 über Fußball-Nationalspieler Jérôme Boateng)
„Eine deutsche oder eine englische Fußballnationalmannschaft sind schon lange nicht mehr deutsch oder englisch im klassischen Sinne.“ (Der AfD-Bundesvize Alexander Gauland am 3. Juni 2016 im „Spiegel“)
Die Linksfraktionsabgeordnete Ulla Jelpke zieht daraus den Schluss, dass die Bundesregierung das Problem nicht ernst genug nehme. „Diese Siedlerprojekte sind mögliche Brutstätten des Naziterrors“, sagte Jelpke dem Handelsblatt. „Ich erwarte von der Bundesregierung, sich genauere Kenntnisse über diese Bewegung zu verschaffen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.“
AfD-Politiker als „völkischer Siedler“
Details zu den „völkischen Siedlern“ hat die Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke recherchiert. Ihr Fazit: Nirgends in Deutschland siedeln sich so viele Neonazis wie in Mecklenburg-Vorpommern an. Das Klischee vom Skinhead mit Springerstiefel passe dabei zunehmend nicht mehr, schreibt die Autorin in ihrem im Jahr 2015 erschienenen Buch „Gefährlich verankert“, das sie im Auftrag der Schweriner SPD-Landtagsfraktion geschrieben hat. „Organisierte Menschen mit rassistischem Weltbild tarnen sich durch Normalität innerhalb einer Gesellschaft voller Alltagsressentiments.“
Dazu zählt Röpke Mitglieder der Arier-Sekte „Artgemeinschaft“, die Bewegung der „Neo-Artamanen“, NPD-Anhänger aus den Ballungsgebieten oder auch völkische Rechte, die die eigene Scholle bewirtschaften wollten.
NPD-Politiker trügen heute gut sitzende Anzüge, viele rechte Frauen moderne Piercings oder traditionelle Zopffrisuren. Ihre Kinder besuchten Waldorf-Kindergärten, die Eltern kauften Biolebensmittel. Die Organisationsstrukturen befänden sich im Wandel von Parteien über Kameradschaftszusammenhänge bis hin zu Bruderschaften, so Röpke. Moderne Neonazis fänden sich auch zunehmend im Rocker- und Rotlichtmilieu wieder.
Röpkes Recherchen decken sich teilweise mit den Erkenntnissen der Bundesregierung. Wie das Innenministerium nennt auch sie den Raum Güstrow als ein Zentrum rechtsextremer Siedler. Bereits 2007 sei man in der Gegend von über einem Dutzend „nationaler Familien“ mit etwa 60 Kindern ausgegangen, konstatiert die Expertin.
Rechtsextreme Aktivitäten
Für Schlagzeilen sorgte 2010 der damalige Bürgermeister des Ortes Lalendorf bei Güstrow, Reinhard Knaack, der sich weigerte, einer mutmaßlich rechtsradikalen Familie die Patenschaftsurkunde des Bundespräsidenten für ihr siebtes Kind zu überreichen. Ansiedlungen von Anhängern der rassistischen „Artgemeinschaft“ gibt es Röpke zufolge auch bei Ludwigslust, Bad Doberan, Grevesmühlen und in der Region Ostvorpommern.
Die Gesichter der AfD
Geboren in Dresden, promovierte Chemikerin und Unternehmerin, Bundesvorsitzende der AfD. Mutter von vier Kindern, liiert mit dem AfD-Landeschef von Nordrhein-Westfalen, Marcus Pretzell: Das ist Frauke Petry. Sie gilt als pragmatisch und ehrgeizig. Auch wenn sie verbal gerne Gas gibt – inhaltlich steht Petry eher in der Mitte der Partei.
Björn Höcke (45) und Alexander Gauland (76) haben im November 2015 gemeinsam „Fünf Grundsätze für Deutschland“ veröffentlicht. Darin wettern sie gegen die „multikulturelle Gesellschaft“ und behaupten, „die politische Korrektheit liegt wie Mehltau auf unserem Land“.
Meuthen ist geboren in Essen, promovierter Volkswirt, seit 1996 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Kehl (Baden-Württemberg), Bundesvorsitzender der AfD, war Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg und ist seit Mai 2016 Landtagsabgeordneter; er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Meuthen gehört zu den wenigen prominenten Vertretern des liberalen Flügels, die nach dem Abgang von Bernd Lucke in der AfD geblieben sind.
Sie ist geboren in Lübeck, Jurastudium in Heidelberg und Lausanne (Schweiz), Rechtsanwältin, stellvertretende Bundesvorsitzende und AfD-Landesvorsitzende in Berlin, seit 2014 im EU-Parlament, verheiratet. Gilt als ultrakonservativ.
Marcus Pretzell (43) ist geboren in Rinteln (Niedersachsen), Jurastudium in Heidelberg, Rechtsanwalt und Projektentwickler, seit 2014 Vorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen, Vater von vier Kindern, seit 2016 verheiratet mit Frauke Petry. Der Europaabgeordnete hat die AfD als „Pegida-Partei“ bezeichnet. Parteifreunde rechnen ihn aber nicht zum rechtsnationalen Flügel.
Im Zusammenhang mit dem Rechtsextremismus-Problem in Ostdeutschland treten auch immer wieder AfD-Politiker in Erscheinung. Im Landtagswahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern richtete sich der Fokus etwa auf den AfD-Direktkandidaten Jens-Holger Schneider.
Im Jahr 2007 war Schneider nach einer Teilnahme an einer NPD-Demonstration aus der CDU ausgetreten. Laut Recherchen von NDR und „Süddeutscher Zeitung“ (SZ) wurde er damals in einer Truppe „mit dem berüchtigtsten Neonazi Mecklenburgs“, Sven Krüger, gesichtet. Krüger sei zentrale Figur des Neonazi-Dorfes Jamel. AfD-Mann Schneider, hießt es in dem Bericht weiter, kenne Krüger gut - und auch den NPD-Funktionär Andreas Theißen. Bei einer NPD-gesteuerten Demonstration sei der AfD-Mann 2015 sogar als Ordner im Einsatz gewesen.
Die Nordost-AfD hat auch einen „völkischen Siedler“ in ihren Reihen: Sascha Jung. Erkenntnissen von NDR und SZ zufolge durfte der Jurist wegen seiner rechtsextremistischen Aktivitäten nicht in den bayerischen Staatsdienst. Die Burschenschaft, der er angehöre, werde zudem von Bayerns Verfassungsschutz beobachtet. Jung, so die Recherchen, sei sogenannter Neusiedler mit Anschluss ins völkische Spektrum der „Neo-Artamanen“.
Kubitschek-Anwesen als „Mekka dieser neurechten Burgenromantik“
Die Innenexpertin der Linken, Jelpke, kritisiert, dass die Bundesregierung sowohl bei den „Neo-Artamanen“ als auch bei anderen Siedlergruppen wie „Sturmvogel“, „Freibund“ und „Jungbund Pommern“, wie es in der Antwort des Innenministeriums heißt, „keine hinreichend gewichtigen Erkenntnisse für rechtsextremistische Bestrebungen“ sehe.
Die Erklärung liefert das Ministerium gleich mit, indem es konstatiert, dass diese Gemeinschaften „ihre Überzeugungen ohne Anspruch auf eine politisch-gesellschaftliche Umgestaltung“ auslebten, was „nicht als verfassungsfeindliche Bestrebung“ gelte. Jelpke findet indes, dass damit wird unterschätzt werde, „dass dort immerhin jedenfalls die Kinder einer Art faschistischer Gehirnwäsche unterzogen werden“.
Die Politikwissenschaftlerin Röpke wertet das Treiben der „völkischen Siedler“ als rechtsextreme „Graswurzelarbeit“. Als Vordenker gelten etwa der Publizist Götz Kubitschek und seine Frau Ellen Kositza. Deren Rittergut Schnellroda in Sachsen-Anhalt, das die Wochenzeitung „Die Zeit“ kürzlich als „Mekka dieser neurechten Burgenromantik“ bezeichnete, dient den beiden mit ihren sieben Kindern nicht nur als Lebensmittelpunkt. Dort ist auch der Kubitscheksche Rechtsaußen-Verlag Antaios und seine Zeitschrift Sezession ansässig.
Zudem fungiert das Anwesen auch als Zentrale des sogenannten „Instituts für Staatspolitik“, bei dem der Chefredakteur des nationalkonservativen Magazins „Compact“, Jürgen Elsässer, die AfD-Landeschefs Björn Höcke (Thüringen) und André Poggenburg (Sachsen-Anhalt), der Chef der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ in Österreich, Martin Sellner, und diverse weitere Protagonisten der neuvölkischen Bewegung des Öfteren zu Gast sind.
Heinrich-Böll-Stiftung warnte vor „Braunen Ökologen“
Laut Röpke ist vor allem Mecklenburg-Vorpommern in den vergangenen 20 Jahren eine Art Erprobungsgebiet für weitgehend informelle rechtsextreme Netzwerke geworden. Sie führt das zurück auf das Erstarken von Siedlerstrukturen, die feste Etablierung von rechten Ansiedlungen und Immobilien, die der rechten Szene immer mehr sichere Rückzugsorte, Rückzugsräume und kooperative Strukturen im Sinne eines völkischen Rassismus erlauben. Als Beispiel nennt sie die „rassistischen Heiden“ in Lalendorf und Umgebung, die Siedlungsstrukturen rund um Rostock und Güstrow oder die Verankerung eines neonazistischen Kaderstamms in und um Lübtheen.
Wie die Linkspartei beklagt auch Röpke eine jahrelange Verharmlosung des Phänomens durch Sicherheitsbehörden wie den Verfassungsschutz. Dabei expandiere die Idee des gemeinsamen Siedelns weiterhin. Das sieht auch der Rechtsextremismus-Experte Günther Hoffmann so.
Als „die netten Kümmerer aus der Nachbarschaft“ machten die völkischen Siedler ihre extrem rechte Weltanschauung salonfähig und trügen sie in Dorfgemeinschaften hinein, sagte Hoffmann in einem Interview. „Die rechtsextreme Verankerung und Entfremdung von der Demokratie schreiten still und kontinuierlich voran. Dafür braucht man die NPD schon lange nicht mehr.“ Die „völkischen Siedler“ schafften auf dem Land durch Märkte und Feste, die sie organisieren, positive Begegnungspunkte, erläuterte Hoffmann. Sie machten sich unentbehrlich in der Nachbarschafts- oder Geburtenhilfe.
Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung warnte schon vor einigen Jahren mit einem Faltblatt vor den „Braunen Ökologen“, die sich gegen Gentechnik wehren oder an Anti-Atom-Protesten beteiligen. Die Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung glaubt zudem, dass die rechten Siedler bewusst auf das Thema Naturschutz setzen, weil es Menschen quer durch die Gesellschaft beschäftige. „Doch in der extrem rechten Vorstellung dient Naturschutz lediglich dazu, die deutsche „Volksgemeinschaft“ und ihren „Lebensraum“ zu erhalten“, heißt es auf der Webseite der Stiftung.