Regionalproporz Wie der Geburtsort Kompetenz vernichtet

Die neue Bundesregierung steht fest – und mit ihr die Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre. Leider geht der Regionalproporz oft aus Kosten der Qualität. Saarland und Niedersachsen dürfen sich freuen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Was die Große Koalition kosten würde
Ob Mütterrente oder Altersrente mit 63, mehr Geld für Bildung, Forschung und Infrastruktur, Pflegereform, Energiewende, Abbau heimlicher Steuererhöhungen oder die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Die Wunschliste der Koalitionäre ist lang – und würde pro Jahr einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag verschlingen. Mehr Neu-Schulden wollen Union und SPD nicht machen. Auf Steuererhöhungen soll – nach bisherigem Stand jedenfalls – verzichtet werden. Und ein Abbau von Subventionen und Finanzhilfen steht in den Sternen. Sich bei der Finanzierung der zusätzlichen Leistungen allein auf steigende Steuereinnahmen und prall gefüllte Sozialkassen zu verlassen, wäre aber äußerst riskant. Quelle: dpa
AusgangslageSelten konnte eine neue Bundesregierung mit so viel finanziellem Rückenwind starten. Schon für dieses Jahr sagen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute einen Überschuss in den Staatskassen von drei Milliarden Euro voraus, der 2014 auf knapp acht Milliarden Euro klettern dürfte. Die Steuereinnahmen dürften in diesem Jahr höher ausfallen als im Mai geschätzt. Bis zum Jahr 2018 sagen die Top-Ökonomen ein Plus in den Staatskassen von rund 53 Milliarden Euro voraus. Ein beträchtlicher Teil dieses Überschusses aber sei konjunkturbedingt und sollte gemäß Schuldenbremse zum Schuldenabbau genutzt werden. Unterm Strich ergäbe sich ein Spielraum für neue Ausgaben von Schwarz-Rot von knapp 33 Milliarden Euro – vorausgesetzt, es bleibt beim vorhergesagten Konjunkturplus. Quelle: dpa
Kosten der WunschlisteSollte die „Kalte Progression“ vermieden werden, also heimliche Steuererhöhungen nach Lohnplus bei gleichzeitig hoher Preissteigerung, würde dies etwa 19 Milliarden Euro kosten. Die von der CDU geforderte Mütterrente für Frauen, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, würde mit 6,5 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Quelle: dpa
Die SPD-Rentenpläne kosten fast drei Milliarden, eine Pflegereform bis zu vier Milliarden. Quelle: dpa
Würde die Koalition Bildungsausgaben auf OECD-Durchschnitt von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung anheben, ergäbe sich 2018 laut Forschungsinstituten ein Betrag von gut 18 Milliarden Euro. Der Zusatzbedarf bei Verkehrsinvestitionen wird bei jährlich sieben bis acht Milliarden Euro gesehen. Alles in allem: fast 56 Milliarden Euro. Eine Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen ist noch unberücksichtigt – was den Bund auch richtig Geld kosten könnte. Quelle: dpa
RentenpläneJe nach Ausgestaltung kostet eine verbesserte Rente für ältere Mütter zwischen 6,5 und 13 Milliarden Euro im Jahr. Wenn die Beitragszahler dafür nicht aufkommen (was konsequent wäre, da es sich um eine versicherungsfremde Leistung handelt), müsste das Geld aus dem Bundeshaushalt kommen. Der SPD-Plan, die Rente mit 67 für langjährig Versicherte erträglicher zu machen und ihnen den Wechsel in den Ruhestand ohne Abschläge schon mit 63 Jahren zu ermöglichen, könnte langfristig mit rund zwei bis drei Milliarden Euro die Rentenkasse belasten. Würde – wie von der SPD gefordert – auf die sich abzeichnende Senkung des Rentenbeitrags verzichtet, blieben den Rentenkassen bis zu sechs Milliarden Euro Beitragseinnahmen erhalten, die anderenfalls wegfielen. Deren „eiserne Reserve“ ist mit rund 27 Milliarden Euro so gut bestückt wie schon lange nicht mehr. Quelle: dpa
VerkehrUm eine Finanzierungslücke von jährlich mehr als sieben Milliarden Euro beim Erhalt von Straßen, Schienen und Wasserwegen zu schließen, haben die 16 Bundesländer ein Konzept bis 2019 vorgelegt: Ein Sanierungsfonds aus zusätzlichen Bundesmitteln soll mit 40 Milliarden Euro über 15 Jahre gespeist werden. Eine Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen könnte 2,3 Milliarden Euro mehr einbringen. Zu prüfen wäre die Vereinbarkeit der von der CSU verlangten Pkw-Maut für ausländische Wagen mit EU-Recht. Quelle: dpa

Dass die Bayern ein besonderes Völkchen sind, zeigt sich allein an der Personalie Hans-Peter Friedrich. Eigentlich hat der Mann als Bundesinnenminister versagt. Bei der  Abhöraffäre um die NSA biederte sich Friedrich den Amerikanern an statt von ihnen Aufklärung zu verlangen. Doch der Jurist Friedrich wurde in Naila geboren, einem idyllischen Städtchen an der bayerisch-thüringischen Grenze. Damit ist Friedrich Oberfranke – und als solcher als Quoten-Mann für CSU-Chef Horst Seehofer unverzichtbar. Denn Seehofer wählte seine drei Minister für die neue Bundesregierung weniger nach Kompetenz aus, sondern nach regionaler Herkunft. Und ein Franke darf nicht fehlen. Friedrich kümmert sich im Kabinett Merkel fortan um Kühe und Bauern.

Verlierer dieses unsäglichen Regionalproporzes ist Peter Ramsauer. Der gebürtige Münchener hat seinen Wahlkreis in Traunstein an der deutsch-österreichischen Grenze. Als Direktkandidat gewann er bei der Bundestagswahl im September 63 Prozent der Erststimmen – so viele wie kein anderer Spitzenpolitiker. Auch als Bundesverkehrsminister unterlief ihm kein eklatanter Patzer. Er steuerte bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur gar in Richtung Nachhaltigkeit um, was Experten seit Jahren fordern. Dennoch muss er nun seinen Posten als Bundesverkehrsminister räumen.

Der Regionalproporz der Parteien vernichtet Kompetenz – nicht nur bei der CSU. Auch bei CDU und SPD ging es immer wieder  um die Frage, wer woher kommt. Da schickt die NRW-SPD eine bundesweit unbekannte Barbara Hendricks nach Berlin, weil das größte Bundesland im Kabinett sonst nicht von der SPD vertreten gewesen wäre.

Da wird Hermann Gröhe (CDU) auch deshalb Gesundheitsminister, weil er ebenfalls aus dem starken Landesverband NRW stammt – seinen Partei- und Regionalkollegen Laumann Karl-Josef, bisher Fraktionschef der CDU im Landtag, nimmt Gröhe als Parlamentarischen Staatssekretär gleich mit. Weil die konservative Hessen-CDU ganz ohne Ministerposten ausgestattet wurde, wird nun einer von ihren immerhin neuer CDU-Generalsekretär. Peter Tauber, 39 Jahre jung, übernimmt das Amt von Gröhe.

Natürlich bedeutet Regionalproporz nicht immer automatisch, dass die Auserwählten ihren Job nicht auch meistern könnten. Einige Minister wachsen möglicherweise über sich hinaus und gewinnen Profil.

Oppermann musste dem Regionalproporz weichen

Diese Unterschiede herrschen zwischen Ost und West
Aktuelle WirtschaftsdynamikDie ersten sechs Monate 2013 liefen für West und Ost gleichermaßen schlecht: Die Wirtschaftsleistung schrumpfte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die neuen Bundesländer erreichten ein Minus von einem Prozent; der Westen kam etwas glimpflicher davon (minus 0,3 Prozent). Berlin hingegen ist eine echte Überraschung gelungen: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Stadtstaats wuchs um 0,5 Prozent und steht damit an der Spitze des Ländervergleichs. 2012 hat das BIP in Ostdeutschland um 2,2 Prozent, in Westdeutschland um 1,9 Prozent zugelegt. Quelle: dpa
JobsIm August waren in Westdeutschland etwa 2,1 Millionen Menschen arbeitslos, im Osten knapp 840.000. Die Arbeitslosenquote lag bei 6,1 Prozent beziehungsweise 9,9 Prozent. 2005, dem bislang schlimmsten Jahr auf dem Arbeitsmarkt nach der Wiedervereinigung, sah es in beiden Teilen des Landes ganz anders aus: 20,6 Prozent betrug die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland, im Westen lag sie bei 11 Prozent. Quelle: BA Quelle: dpa
DemografieDer Osten schrumpft, der Westen wächst. In den neuen Ländern ist die Einwohnerzahl seit 1991 von etwa 18 Millionen auf 16,3 Millionen gesunken, im Westen hingegen von fast 62 Millionen auf 65,6 Millionen gestiegen. Quelle: Destatis. Quelle: dpa
EhescheidungenWestdeutsche lassen sich häufiger scheiden. Pro 10.000 Einwohner wurden im Westen 2011 fast 25 Ehen geschieden, das sind etwa 30 Prozent mehr als 1992. Im Osten stieg im gleichen Zeitraum die Quote zwar um stolze 135 Prozent – absolut allerdings nur auf etwa 15 Scheidungen. Quelle: Destatis. Quelle: dpa
RentenWestdeutsche haben im Alter immer noch mehr. Die sogenannte Standardrente, die ein Rentner erhält, nachdem er bei einem Durchschnittslohn 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat, beträgt 2013 im Westen etwa 1137 Euro, im Osten 1040 Euro. 1992 war der Unterschied deutlicher: Westdeutsche erhielten 895 Euro, Ostdeutsche nur 455 Euro. Quelle: BMAS. Quelle: dpa
FrauenerwerbstätigkeitFrauen in Ost und West haben sich bei der Erwerbstätigkeit angenähert. Waren 1991 in den neuen Bundesländern noch fast 90 Prozent der Frauen zwischen 35 und 40 Jahren berufstätig, sind es mittlerweile nur noch rund 83 Prozent. Die Quote berufstätiger Frauen in den alten Bundesländern erhöhte sich von 70 auf 75 Prozent. Quelle: Universität Duisburg Essen. Quelle: dapd
Verfügbares EinkommenWährend in Ostdeutschland das Haushaltseinkommen pro Kopf von 1991 bis 2011 um etwa 46 Prozent stieg, wuchs es in Westdeutschland um satte 68 Prozent. Ein Ostdeutscher hat heute im, Schnitt etwa 17.000 Euro zur Verfügung, ein Westdeutscher fast 20.000. Quelle: Bundeswirtschaftsministerium. Quelle: dpa

Doch im Kern verstehen die Wähler nicht, was einen Oberfranken besser qualifiziert als einen Münchener, oder warum Heiko Maas aus dem Saarland Justizminister wird statt die frühere Justizministerin Brigitte Zypries aus Hessen. Immerhin hat sich Zypries schon mehrere Jahre als frühere Justizministerin profiliert. Maas hingegen konnte auch im dritten Wahlanlauf keine parlamentarische Mehrheit im saarländischen Landtag für die SPD erzielen. Auch Thomas Oppermann (SPD) aus Niedersachsen hätte das Zeug zu einem guten Justizminister. Doch mit Sigmar Gabriel, Ursula von der Leyen und Frank-Walter Steinmeier waren schon drei Niedersachsen als Minister gesetzt (Steinmeier ist zwar im nordrhein-westfälischen Detmold geboren und hat seinen Wahlkreis in Brandenburg, gilt aber parteiintern wegen seiner langjährigen politischen Arbeit in Hannover als Niedersachse). Oppermann musste daher dem Regionalproporz weichen.

Die Niedersachsen dürften sich ohnehin als heimliche Gewinner der Bundestagswahl fühlen. Zählt man zu den Ministern auch die Posten der Parlamentarischen Staatssekretäre und wegen der hohen Bedeutung für die Regierungsarbeit die Fraktionschefs hinzu, dann geht der norddeutsche Flächenstaat eindeutig als Sieger hervor. Niedersachsen stellt 15,4 Prozent der Ämter. Der Bevölkerungsanteil liegt bei knapp zehn Prozent.

Noch mehr jubeln dürften die Saarländer. Sie stellen mit Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) nicht nur zwei Minister, sondern mit Elke Ferner (SPD) auch die Parlamentarische Staatssekretärin im Familienministerium. Damit kommt das Saarland auf 5,8 Prozent der Posten. Der Bevölkerungsanteil liegt aber nur bei 1,2 Prozent. Auch Hessen ist gut vertreten - zwar ohne Minister, aber mit vier parlamentarischen Staatssekretären und CDU-General Tauber.

Die bevölkerungsreichen Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern kommen in etwa auf die Anzahl von Ämtern, die ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen. NRW schafft es dank zahlreicher Leute in der zweiten Reihe auf eine etwas höhere Quote. Absolut gesehen kommt jeder fünfte Minister oder Parlamentarische Staatssekretär aus dem Rheinland oder Westfalen.  

Gänzlich leer aus gehen Berlin und Sachsen-Anhalt. Möglicherweise spielt der Stadtstaat im Parteiengeschacher allein deshalb keine Rolle, weil die Bundespolitik in der Hauptstadt zu Hause ist. Und Sachsen-Anhalt wird als eigenständiges Bundesland ja schon seit Jahren in Frage gestellt.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%