Wenn Politiker Klischees, die über sie im Umlauf sind, nicht widerlegen, sondern sie bestätigen, dann ist Vorsicht geboten. Die große Koalition bildet da in diesen Frühlingstagen keine Ausnahme. Erst forderte CSU-Parteichef Horst Seehofer einen Abschied von der Riester-Rente und höhere Mindestsätze für Deutschlands Senioren. Sofort eiferte ihm der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel nach – und auch Angela Merkels CDU ließ rasch ihren Widerstand gegen so viel Großzügigkeit fallen. Nachhaltige Politik war mal wieder weit weg, kurzfristige Denke regiert.
Die Rentendebatte markiert das Ende der Sachpolitik der großen Koalition, auch wenn die Bundestagswahl erst im September 2017 ansteht. Natürlich, ein paar Gesetze wird Schwarz-Rot noch durchs Parlament bringen, aber eigentlich richtet sich der Blick nur noch auf den Wahlkampf. Schließlich winkt in diesem erstmals nicht nur populistischer Druck von links, sondern durch die AfD auch von rechts. Umso intensiver denken die etablierten Parteien über attraktive Gegenangebote nach.
1. Steuern: Plötzlich Wirtschaftsfreundlich
Das denkbar größte Geschenk aus Sicht des Bundesfinanzministers ist natürlich die nachhaltige schwarze Null, also ein durchweg ausgeglichener Bundeshaushalt in den Jahren 2014 bis 2017. Dies zu erreichen wäre ein Zeichen von Solidität und Sparsamkeit, gerade in Zeiten hoher Ausgaben für Flüchtlinge. Ob der Haushalt da überhaupt noch weitere Wahlgeschenke zulässt? Wolfgang Schäuble (CDU) lässt in seinem Haus zumindest nachdenken, wen man steuerlich entlasten könnte. Eine Anhebung der Einkommensgrenze, ab welcher der Spitzensteuersatz von 42 Prozent gilt, beispielsweise von 53.000 auf 63.000 Euro, wäre mit ihm allerdings nicht zu machen. Zwar fordern dies Mittelstandspolitiker der Union, doch dürften sich die Steuerausfälle auf mehrere Milliarden Euro summieren – zu viel.
Weniger teuer und damit eher denkbar wäre eine Korrektur der Gewinnbesteuerung für mittelständische Unternehmen. Hier liegt einiges im Argen, obwohl Schäubles SPD-Amtsvorgänger Peer Steinbrück die steuerliche Benachteiligung von Personengesellschaften gegenüber Kapitalgesellschaften beseitigen wollte. Doch die 2008 dafür gewählte Konstruktion einer Thesaurierungsrücklage, nach der einbehaltene Gewinne nur mit 30 Prozent besteuert werden, entpuppte sich als Mogelpackung. Tatsächlich gelten die 30 Prozent Steuern als betriebliche Entnahme. Darauf aber wird nochmals Steuer fällig, sodass sich die effektive Abgabenlast auf 35 Prozent erhöht. Sie liegt damit immer noch deutlich höher als bei Kapitalgesellschaften, für die nur 29 Prozent gelten.
Folge: Nur ein paar Dutzend große Mittelständler nutzen das Konstrukt. Statt prognostizierter Steuerausfälle von vier Milliarden Euro sei es nur ein Bruchteil davon, heißt es im Bundesfinanzministerium. „Eine Vereinfachung wäre sicherlich förderlich“, sagt Berthold Welling, Steuerexperte beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).
Schäuble könnte sich so für wenig Geld als mittelstandsfreundlicher Minister präsentieren, nachdem seine Bilanz zur Steuerentlastung bisher dürftig ausgefallen ist. Die zwischenzeitliche Anhebung des Grundfreibetrages war verfassungsrechtlichen Vorgaben geschuldet, die Maßnahmen gegen die kalte Progression fielen überschaubar aus.
2. Gesundheit & Pflege: Wir tun niemandem weh
Hermann Gröhe war einmal Generalsekretär der CDU. Der Bundesgesundheitsminister erkennt deshalb sehr genau, dass Verbesserungen bei der Pflege wichtig sind, gerade für die zahlreichen älteren Wähler der Union. Viele sind jenseits der 60 und wissen umfassende Sozialleistungen zu schätzen. Deshalb hat Gröhe bereits eine teure Pflegereform angestoßen, hin zur individuellen Betreuung nicht nur von körperlich Behinderten, sondern auch von Dementen. Im Wahljahr 2017, wenn bis zu 1,5 Millionen Demenzkranke und ihre Angehörigen vollständig von neuen Einstufungen im Pflegesystem profitieren, wird der Beitragssatz zwar leicht auf 2,55 und 2,8 Prozent (für Kinderlose) steigen. Aber die Verbesserungen spüren die Wähler hoffentlich stärker.
Ohnehin gab sich Gröhe als Minister schon bisher ausgesprochen spendierfreudig: Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) schätzt, dass verschiedene von Gröhe angestoßene Gesetze zwischen 2016 und 2020 zu insgesamt 35 bis 40 Milliarden Euro Mehrausgaben im Gesundheits- und Pflegesystem führen.
Eine Studie im Auftrag der Barmer GEK nennt etwa das neue Pflegegesetz „in mehrfacher Hinsicht unerwartet großzügig“. Anders als von Gröhes Experten empfohlen, hätten noch mehr Menschen Anspruch auf Leistungen. Außerdem würden weitere Versicherte bei der Umstellung von bisher drei Pflegestufen auf künftig fünf Pflegegrade höher bewertet und bekämen mehr Geld. Die Regierung habe auch bei Pflegebedürftigen keine Abstriche gemacht, die schon großzügig abgeschnitten hätten, so die Verfasser der Studie.
Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten
Die Prognosen beziehen sich auf den sogenannten Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer das Durchschnittseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verdient hat. Die angegebene Bruttostandardrente versteht sich vor Steuern. Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der beitragszahlenden Beschäftigten abzüglich der durchschnittlichen Sozialversicherungsbeiträge an.
Quelle: Rentenversicherungsbericht 2015, Deutsche Rentenversicherung Bund, Stand: November 2015
Beitragssatz zur GRV: 19,9 %
Bruttostandardrente: 1224 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 51,6 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1372 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,7 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1517 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,6 %
Beitragssatz zur GRV: 20,4 %
Bruttostandardrente: 1680 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 46,0 %
Beitragssatz zur GRV: 21,5 %
Bruttostandardrente: 1824 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 44,6 %
Am Beispiel derer, die daheim gepflegt werden, rechnen die Ökonomen vor: „Im Ergebnis werden im ambulanten Bereich zum Umstellungszeitpunkt mehr als 95 Prozent der Leistungsbezieher besser gestellt und niemand schlechter.“ Im Wahlkampf können solche Zahlen für eine Volkspartei wie die CDU natürlich gute Argumente sein.
3. Rente: Fürchtet euch nicht
Es ist, wieder einmal, richtig schlecht gelaufen für Sigmar Gabriel. Bereits Ende Februar hatte der SPD-Chef gefordert, die gesetzliche Alterssicherung nicht immer weiter abzuschmelzen. Doch Gabriels Vorstoß verhallte ohne jedes Echo, auch wegen der Flüchtlingskrise. Erst CSU-Chef Horst Seehofer hat nun eine neue Rentendebatte losgetreten – was Gabriel mehr oder minder zu einer Wiederholung seiner Forderungen aus dem Februar zwang. Die klangen dafür prompt so entschlossen, als lasse sich der oberste Genosse niemals auf der sozialen Spur überholen. Auch die mögliche Finanzierbarkeit spielte keine Rolle.´
Zur Erinnerung: Die vorerst letzten Rentengeschenke der großen Koalition, versprochen im Wahlkampf 2013, addieren sich bis 2030 bereits auf die gigantische Summe von rund 160 Milliarden Euro und kosteten Arbeitnehmer eine geplante üppige Beitragssenkung, die stattdessen ausfiel. Die von Seehofer und Gabriel nun ins Spiel gebrachte Option, das allgemeine Rentenniveau mindestens auf dem jetzigen Stand von rund 47 Prozent eines Durchschnittseinkommens zu stabilisieren oder gar zu erhöhen, würde wieder Milliarden kosten. So würde ein Rentenniveau von 50 Prozent im Jahr 2030 mit mehr als 27 Milliarden Euro Mehrkosten zu Buche schlagen. Der Beitragssatz müsste dafür von heute 18,7 auf mehr als 24 Prozent steigen – wenn nicht der Steuerzahler die Lücke füllt.
Wahlkampf ohne Versprechen unmöglich
Andrea Nahles, der zuständigen SPD-Ministerin, sind solche Zahlen natürlich bekannt. Deshalb reagierte sie verhalten auf die neuen Vorschläge. Deutschland aber hat einen Vorgeschmack auf den zweiten Bundestags-Rentenwahlkampf binnen vier Jahren erhalten. Denn ein Wahlkampf ohne Versprechen an die mehr als 20 Millionen Rentner und die vielen, die es bald sein werden, ist undenkbar. Zumal die Erfahrungen aus Mütterrente und abschlagsfreier Frührente ab 63 zeigen: Die Profiteure merken es sofort, während sich die horrenden Kosten in der gewaltigen Maschinerie der Rentenversicherung bestens verschleiern lassen.
Also lässt Seehofer seine bayrische Sozialministerin bis zum Sommer eigene Vorschläge für eine große Rentenreform erarbeiten, die CDU hat flugs den Arbeitnehmer-Vorkämpfer Karl-Josef Laumann sowie dessen Kollegen im CDU-Präsidium, Jens Spahn, mit Ideensammlung beauftragt, und Nahles will bis Herbst ein „Gesamtkonzept“ vorlegen.
Eigentlich wollte die Bundessozialministerin in dieser Legislatur nur noch kleinere Stellschrauben bewegen: die betriebliche Altersvorsorge endlich attraktiver machen und die Lebensleistungsrente für Kleinverdiener ausarbeiten. Doch Seehofer und Gabriel haben nun neue Sehnsüchte geweckt, die wohl gestillt werden müssen.
4. Familie: Hilfe für die Gestressten
SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, die den nächsten Bundestagswahlkampf der Genossen managen muss, bekommt beim Gedanken daran leuchtende Augen, Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) ist sowieso Feuer und Flamme, und sozialdemokratische Strategen im Hintergrund halten das Projekt für eine geniale Idee, um eine wichtige Wählerklientel für die SPD zurückzugewinnen: die Familienarbeitszeit.
Die große Koalition war erst ein paar Wochen jung, als Schwesig das Konzept Ende 2013 erstmals öffentlich ins Spiel brachte. Kanzlerin Merkel kassierte den Vorschlag sofort und rüffelte die Ministerin, weil die Familienarbeitszeit nicht im Koalitionsvertrag verankert war. Seitdem liegt der Plan als SPD-Wahlkampfwunderwaffe in den Schubladen des Familienministeriums – und könnte dort jederzeit rausgezogen werden, auch schon vor 2017.
Darum geht es: Wenn beide Elternteile der Kinder wegen gemeinsam bei der Arbeit auf Teilzeit reduzieren, soll der Staat das geringere Einkommen aufstocken. Ein steuerfinanzierter Bonus auf partnerschaftlich geteilte Aufgaben also, ein Anreiz für mehr Gleichberechtigung sowohl im Job als auch in der Familie: Hilfe für gestresste Eltern in der sogenannten „Rushhour des Lebens“ – für Sozialdemokraten klingt das einfach wie ein Traumprojekt.
„Mit ihrem zu frühen Vorstoß hätte Schwesig die Familienarbeitszeit fast verbrannt“, sagt ein führender Genosse. Doch jetzt, meint er, „wäre genau die richtige Zeit, sie rauszuholen“. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat das Konzept bereits durchgerechnet – und kam auf Kosten von rund 320 Millionen Euro jährlich.
Im Vergleich zu den Zahlen, mit denen gerade in der Renten- oder Steuerpolitik jongliert wird, ist das ja beinahe ein Schnäppchen.