Rentenniveau Altersarmut – ein Phantom?

Das Institut der Deutschen Wirtschaft kommt zum Ergebnis, dass auch bei weiter sinkendem Rentenniveau normale Arbeitnehmer nicht in der Grundsicherung landen. Doch zusätzliche Vorsorge wird trotzdem immer wichtiger.

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Rentnerpaar auf einer Bank vor dem Reichstag in Berlin. Die Angst vor der Altersarmut ist oft nur eine Phantomangst, will das Institut der Deutschen Wirtschaft herausgefunden haben. Quelle: dpa

Berlin In der aktuellen rentenpolitischen Debatte wird die Forderung, das Niveau der gesetzlichen Rente nicht weiter absinken zu lassen oder sogar wieder zu erhöhen, vor allem damit begründet, dass bei weiter sinkendem Sicherungsniveau der Rente vor Steuern in Zukunft auch eine „normale“ Erwerbsbiografie in vielen Fällen nicht mehr zu einer gesetzlichen Rente führt, die über das Grundsicherungsniveau im Alter hinausreicht.

Käme es so, könnte dadurch die Akzeptanz des gesetzlichen Umlagesystems dauerhaft verloren gehen, heißt es nicht nur bei den Gewerkschaften und der SPD. Auch Teile der Union plädieren mit diesem Argument für eine Stabilisierung des Rentenniveaus. Dabei markiert die Grundsicherung, auch Hartz IV genannt, den soziokulturellen Mindestbedarf, den jemand in Deutschland hat.

Aber sind diese Ängste überhaupt berechtigt? Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat gerechnet und kommt in einer Studie, die dem Handelsblatt vorab vorliegt, zum Ergebnis, dass dem nicht so ist. Als klassisches Beispiel führt das IW den sogenannten Standardrentner an. Das ist jemand, der 45 Jahre immer ein Durchschnittseinkommen erzielt hat, von dem Rentenbeiträge abgeführt wurden. Ein solcher Arbeitnehmer hat, wenn er in Rente geht, 45 Entgeltpunkte auf seinem Konto. Multipliziert mit dem aktuellen Rentenwert für Westdeutschland von 30,45 Euro ergibt dies derzeit einen Rentenanspruch von 1370 Euro in Westdeutschland, was einem Rentenniveau vor Steuern von 48,2 Prozent entspricht.

Nach geltendem Recht darf dieses Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent sinken. Wäre diese niedrigere Schwelle heute schon erreicht, käme der Standardrentner nur noch auf 1222 Euro, rechnet das IW vor. „Für einen Single-Haushalt entspricht die Grundsicherung im Alter derzeit aber lediglich einem Äquivalent an monatlicher Bruttorente von schätzungsweise 850 Euro pro Monat“ schreibt das IW. Dabei seien Kranken- und Pflegeversicherungsschutz und die durchschnittlichen Wohnkosten schon eingerechnet.

Nun wird es nach den aktuellen Vorausberechnungen aber bis 2030 wegen der guten Beschäftigungslage gar nicht so weit nach unten gehen mit dem Rentenniveau. Die Bundesregierung geht in ihrem neuesten Rentenbericht für 2030 von einem Niveau von 44,5 Prozent aus. Die Standardrente läge also in heutigen Preisen damit sogar bei 1265 Euro. Selbst 2045, wenn ohne Eingreifen des Gesetzgebers nach neuesten Prognosen das Rentenniveau auf 41,7 Prozent gesunken sein wird, gäbe es nach 45 Jahren Durchschnittsverdienst immer noch 1185 Euro Rente im Monat, also deutlich mehr als den derzeitigen Grundsicherungsanspruch eines Singlehaushalts.

Allerdings schaffen es heute immer weniger Menschen, noch 45 Jahre am Stück sozialversicherungspflichtig erwerbstätig zu sein. Die Erwerbsbiografie für westdeutsche Männer etwa beträgt derzeit nur 41,4 Jahre im Durchschnitt. Westdeutsche Frauen kommen sogar im Durchschnitt nur auf 30 Versicherungsjahre. Auch hier ergeben sich laut IW bei der nach geltendem Recht vorgesehenen Absenkung des Rentenniveaus keine Armutsrenten für Durchschnittsverdiener. 

So kommen die westdeutschen Männer mit Durchschnittsverdienst aktuell auf 1261 Euro Rente bei einem derzeitigen Rentenniveau von 48,2 Prozent. Wäre bereits 2045 und das Niveau auf 41,7 Prozent geschrumpft, wären es immer noch 1203 Euro. Frauen ginge es nach den 30 Versicherungsjahren, die sie im Durchschnitt nur erreichen, schon deutlich schlechter: Aktuell kämen sie auf 914 Euro Rente im Monat. Wäre schon 2045, kämen nur 872 Euro heraus.

Das ist zwar immer noch mehr als die durchschnittliche Grundsicherung. Aber in Ballungszentren mit hohen Mieten wie Hamburg und München würde sich für sie ein Antrag auf Grundsicherung schon lohnen. Allerdings ist es kein Zufall, dass westdeutsche Frauen oft kürzere Erwerbsbiografien haben, mutmaßt das IW. Sie seien offenbar oft auf andere Weise abgesichert. Dafür spreche, dass bereits 2015 fast die Hälfte der gezahlten Renten mit einer Höhe von maximal 750 Euro unterhalb der Grundsicherungsschwelle für einen Single gelegen hätten. Trotzdem haben im gleichen Jahr nur 2,7 Prozent der gesetzlichen Rentner Grundsicherung erhalten.


Nahles plant Solidarrente

Für Ostdeutschland sähe die Lage besser aus, da dort Männer und Frauen im Durchschnitt längere Erwerbsbiografien haben. So kommen laut IW-Studie ostdeutsche Männer auf 44,4 Versicherungsjahre im Durchschnitt und mithin auch bei einem auf 41,7 Prozent abgesenkten Rentenniveau immer noch auf 1214 Euro Rente. Ostdeutsche Frauen haben im Durchschnitt 43,8 Versicherungsjahre und würden 2045 bei einer Rente von 1198 Euro landen.

Also alles in Butter bei der gesetzlichen Rente? Nein, meint selbst das Institut der Deutschen Wirtschaft. „Die Ergebnisse der Modellrechnung sind mit Vorsicht zu interpretieren“ so Jochem Pimpertz, Rentenexperte beim IW. „In der Realität können die Biografien der gesetzlich Versicherten zum Teil deutlich von den Modellannahmen abweichen.“ Sei es auf Grund längerer Ausbildungszeiten, familiärer Auszeiten, Phasen der Arbeitslosigkeit und Umschulung oder vorübergehender Teilzeitbeschäftigung.

„Deshalb vermitteln durchschnittliche Werte oftmals einen falschen Eindruck, wenn man sie mit dem konkreten Einzelfall konfrontiert.“ Dieses Argument gelte allerdings auch umgekehrt gegen die pauschale Befürchtung, „dass künftig allein aufgrund des Absinkens des Rentenniveaus eine normale Erwerbsbiografie nicht mehr zu einer gesetzlichen Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus führt.“

Auch das Bundesarbeitsministerium tritt dem Eindruck entgegen, es sei der Meinung, dass allein das Niveau der gesetzlichen Rente über die Frage altersarm oder nicht entscheidet. Das Einkommen im Alter sei vielmehr ein Resultat der individuellen Biografie. Ob jemand im Alter hilfsbedürftig und auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen ist, hänge von einer Vielzahl sehr individueller Einflüsse ab. „Wer sein Leben lang nicht oder nur mit Riesen-Unterbrechungen gearbeitet und verdient hat, der kann im Alter kein vor Bedürftigkeit schützendes Auskommen haben“, kommentierte ein Sprecher des Ministeriums die Modellrechnungen des IW. „Aber gleichwohl gilt: Wer bestimmte, recht eng gefasste Voraussetzungen im Hinblick auf Beschäftigungsdauer und -umfang erfüllt, der soll besser gestellt sein als die, die das nicht tun.“

Im Übrigen verweist das Ministerium auf das Reformkonzept, das Arbeitsministerin Andrea Nahles bereits Ende vergangenen Jahres vorgelegt hat. Danach kann ein höheres allgemeines Rentenniveau im Einzelfall ansonsten drohende Altersarmut zwar durchaus vermeiden. Je kleiner jedoch das Einkommen ist, von dem Beiträge gezahlt wurden, umso weniger sei eine generelle Niveauanhebung geeignet, eine eigenständige Alterssicherung unabhängig von Grundsicherungsleistungen zu erreichen, heißt es dort. 

Nahles hält es aber gleichwohl für erforderlich, Menschen mit Niedrigeinkommen ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung zu ermöglichen, wenn sie ein Leben lang erwerbstätig waren. Erreichen will sie das mit einer neuen, außerhalb der Rentenversicherung angesiedelten Solidarrente. Dafür soll die aus eigener Beitragszahlung erworbene Rente um einen Zuschlag so erhöht werden, dass der Rentenzahlbetrag 10 Prozent über dem regionalen durchschnittlichen Grundsicherungsbedarf liegt. Finanziert werden soll diese Solidarrente über Steuern. Bislang ist es der Ministerin allerdings nicht gelungen, ihr Konzept beim Koalitionspartner Union durchzusetzen.

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