Andreas Nahles sieht noch ein wenig müde um die Augen aus, als sie an diesem Freitagmorgen die Bundespressekonferenz betritt. Aber sie ist hellwach. Und zu Attacke fähig ist sie auch schon. Die Koalition habe am Abend zuvor eine „Chance verpasst“, sagt sie. Die Chance, „eine sachliche Debatte zu führen“. Wen sie damit meint ist klar: die Union. Deshalb sei nun sicher, dass die Rente in den kommenden Monaten auf der Tagesordnung stünde. Oder anders gesagt: Der Rentenwahlkampf 2017 ist eröffnet.
Denn der Regierungsgipfel im Kanzleramt bringt zwar einige Ergebnisse, aber er lässt viel mehr offene Enden. Die Koalition beendet die von ihr selbst (Horst Seehofer! Sigmar Gabriel!) im Frühjahr angestoßene Alterssicherungs-Debatte nicht mit einem großen Wurf, sondern mit Klein-Klein. Sie hat Sehnsüchte geweckt, die nun im Rennen um Mehrheiten 2017 nicht einfach vernünftig gestillt, sondern weiter angefacht werden. Wer an die Folgen des jüngsten Wahlkampfs denkt (und an das darauf folgende milliardenschwere, politisch falsche Rentenpaket), sollte beunruhigt sein.
Um eines klar zu stellen: Was die Koalition am Donnerstagabend noch an Vorhaben verabschiedet hat, geht in Ordnung. Eine bessere Erwerbsminderungsrente für Invaliden hilft jenen, die wirklich unverschuldet zu den Verlierern der Arbeitsgesellschaft gehören. Die Angleichung der Ost-West-Renten bis 2025 schafft zwar Verlierer (Ost-Arbeitnehmer) und Gewinner (Ostrentner) – aber sie ist überfällig, umfassend, wird korrekt finanziert (aus Steuern) und dank mehrerer Übergangsstufen auch verträglicher sein als Nahles` erster Vorschlag. Auch die weiteren Verbesserungen bei Betriebsrenten, Riester und die Vorsorge-Freibeträge in der Grundsicherung gehen allesamt in die richtige Richtung.
Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten
Die Prognosen beziehen sich auf den sogenannten Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer das Durchschnittseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verdient hat. Die angegebene Bruttostandardrente versteht sich vor Steuern. Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der beitragszahlenden Beschäftigten abzüglich der durchschnittlichen Sozialversicherungsbeiträge an.
Quelle: Rentenversicherungsbericht 2015, Deutsche Rentenversicherung Bund, Stand: November 2015
Beitragssatz zur GRV: 19,9 %
Bruttostandardrente: 1224 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 51,6 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1372 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,7 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1517 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,6 %
Beitragssatz zur GRV: 20,4 %
Bruttostandardrente: 1680 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 46,0 %
Beitragssatz zur GRV: 21,5 %
Bruttostandardrente: 1824 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 44,6 %
Die großen Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen aber bleiben ungelöst. Man kann dabei Andrea Nahles nicht vorwerfen, an diesem Freitag keine Antworten mitgebracht zu haben. Sie hat sogar sehr viele. Doch sind sie in Summe fragwürdig. Als dezidierter Vorschlag für ein SPD-Rentenwahlprogramm taugen sie ganz sicher. Als Regierungspolitik nur bedingt.
Da wäre die „doppelte Haltelinie“ bis ins Jahr 2045, bestehend aus einem Rentenniveau von nicht weniger als 46 Prozent und einem Beitragssatz von bis zu 25 Prozent. Der Kraftakt bei der Niveau-Stabilisierung wird über stark steigende Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber erkauft, die genau das gefährden könnten, was Grundlage jeder funktionierenden Rentenpolitik bleiben muss: ein Arbeitsmarkt mit vielen Jobs. Zumal Nahles diesen Verteilungskampf zusätzlich über eine weitere Steuerspritze namens Demografiezuschuß lösen will. Der unbekannte künftige Finanzminister, der die nötigen Milliarden in den zwanziger- und Dreißigerjahren einmal bezahlen muss, kann praktischerweise noch nicht protestieren.
Wer für die Jahre 2030 bis 2045 – angesichts der Millionen von Babyboomern im Ruhestand - aufrichtig nachhaltige Lösungen anbieten wollte, müsste auch über ein weiter steigendes Renteneintrittsalter sprechen. Nahles will dies aber explizit nicht. Angesichts der ihr verbundenen Gewerkschaften ist das politisch nachvollziehbar. Ein Fehler bleibt es dennoch.
Und dann wäre da noch der Vorschlag einer neuen Solidarrente für Geringverdiener. Dass Nahles das Konzept der solidarischen Lebensleistungsrente über Bord geworfen hat, ist richtig. Es taugte nicht. Aber auch der neue Vorschlag hat eine fundamentale Schwäche, weil er 35 Beitragsjahre als Zutrittsschwelle markiert, um in den Genuss des Aufschlags auf die Grundsicherung zu kommen. Sind 30, 25 oder sogar 15 Jahre Arbeit etwa keine Lebensleistung, die sich in Rentenansprüchen manifestieren sollte, die höher als Hartz IV sind? Was die Ministerin vorschlägt, bleibt willkürlich.
Wer gearbeitet hat, soll mehr haben, als der, der nicht gearbeitet hat, sagt Nahles voller Nachdruck an diesem Morgen. Da hat sie Recht. Nur die Idee, wie das auch wirklich fair und für alle umgesetzt werden kann – die hat sie nicht.
Nun darf man gespannt sein, mit welchen Vorschlägen die Union in den heraufziehenden Rentenwahlkampf geht, den vorher angeblich keiner wollte. Die CSU, so viel steht fest, wird wieder mit einer nochmals erhöhten Mütterrente – ihren Schlager von 2013 – werben. Sinnvoll, gerecht und billig ist das auch vier Jahre später nicht. Wollen CDU/CSU dafür ein höheres Renteneintrittsalter? Wollen sie ein geringeres Garantie-Rentenniveau und niedrigere Beiträge? Wer weiß.
Es gibt Momente, da wünscht man sich mutige Reformer. Was macht eigentlich Franz Müntefering?