Rentenreform Also doch – ein Rentenwahlkampf

Ein paar Lösungen und viel mehr offene Fragen: die große Koalition schafft keine große Rentenreform mehr. Der desaströse Wohltaten-Wahlkampf von 2013 könnte sich nun 2017 wiederholen.

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Wie die Rente sicher bleibt
Herausforderung DemografieDie deutsche Bevölkerung wird immer älter - das belastet die gesetzlichen Rentenkassen. Der demografische Wandel hat auf Lange Sicht erheblichen Einfluss auf die Finanzierungsstruktur der deutschen Alterssicherung. Die Bevölkerung altert doppelt: Nicht nur leben die Leute länger, auch immer weniger Kinder kommen in Deutschland auf die Welt. Die Geburtenrate liegt schon seit den 1960er Jahren deutlich unter dem Niveau, das den ursprünglichen Bevölkerungsbestand erhalten könnte. Quelle: dpa
Deutschland - eine Greisengesellschaft Laut den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes die Bevölkerung im Jahr 2050 um rund neun Prozent schrumpfen – auf 74,6 Millionen Einwohner. Im gleichen Zeitraum verdoppelt sich der Altersquotient. Dieser beschreibt das Verhältnis der Rentner zu Personen im erwerbsfähigen Alter. Er steigt von derzeit 31 auf 61 Prozent. Eine mögliche Lösung wäre es, die Geburtenlücke durch externe Einwanderer – etwa aus Südeuropa – zu schließen. Allerdings gehen die wenigsten davon aus, dass der derzeit hohe Zuwandererstrom nachhaltig ist. Quelle: dpa
Die KrisenreformenSeit 25 Jahren kämpft die Politik damit, den Druck auf Ausgaben und Beitragssätze bei der gesetzlichen Rentenversicherung zu mindern. Erst wurden Ausfall- und Ersatzzeiten gestrichen, später Leistungen gekürzt. Ab 1992 wurde zum Beispiel die Bruttolohn- auf die Nettolohnanpassung umgestellt. Außerdem wurden Abschläge bei vorzeitigem Rentenbezug eingeführt. Und: Die Rente wurde zunehmend durch Einnahmen aus der Steuerkasse querfinanziert. Quelle: dpa
Weniger BeiträgeGleichzeitig haben die Politiker durchgesetzt, dass die Bevölkerung immer weniger für ihre Rente zahlen soll: Die als langfristig tragbar angesehenen Beitragssatzobergrenzen wurden schrittweise gesenkt. Mit dem Rentenreformgesetz (RRG) 1992 waren es 28 Prozent bis zum Jahr 2030, mit dem Wachstumsförderungsgesetz 1996 sollten 26 Prozent nicht überschritten werden, beim RRG 1999 (Blüm-Reform) waren es 24 Prozent und mit dem Altersvermögensergänzungsgesetz 2001 und dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz die aktuell gültigen 22 Prozent bis zum Jahr 2030. Quelle: dpa
Den Studienautoren sind diese Maßnahmen nicht genug, sie schlagen folgende Schritte zur Schaffung eines nachhaltigen Rentensystems vor:1) Beibehaltung der Rentenreform Nach den Reformen der letzten Jahre liegt Beitragssatzobergrenze seit 2005 bei 22 Prozent. Daran sollte laut Studie auch nicht gerüttelt werden. Würden alte Reformen rückabgewickelt – wie manche Politiker bereits fordern – läge der Beitragssatz bis 2050 bei etwa 30 Prozent und damit deutlich höher. Auch der Bund müsste dann mehr zuschießen. Quelle: dpa
2) Die LebensleistungsrenteDie von der ehemaligen Sozialministerin Ursula von der Leyen vorgeschlagene Lebensleistungsrente sieht vor, niedrigen Renten langjährig Beschäftigter aufzustocken. Tatsächlich müsste jemand in Westdeutschland über 35 Beitragsjahre jeden Monat 2.065 Euro brutto verdienen, um bei der Rente auf die Grundsicherung (700 Euro) zu kommen. Ohne Aufstockung bestehe laut Studie die Gefahr, dass Geringverdiener irgendwann in eine (Solo-)Selbstständigkeit flüchten – und die Zahl der Beitragszahler sinkt. Quelle: dpa
3) Ausweitung des Versichertenkreises der RentenversicherungSelbstständige, die in keinem Alterssicherungssystem abgesichert sind, sollten zu Pflichtmitgliedern in der allgemeinen Rentenversicherung werden – zumindest, wenn sie ein bestimmtes Alter nicht überschritten und bislang keine eigene Altersvorsorge aufgebaut haben. Das Risiko von Altersarmut für solche Soloselbstständigen könne – so die Studie – verringert werden. Quelle: AP

Andreas Nahles sieht noch ein wenig müde um die Augen aus, als sie an diesem Freitagmorgen die Bundespressekonferenz betritt. Aber sie ist hellwach. Und zu Attacke fähig ist sie auch schon. Die Koalition habe am Abend zuvor eine „Chance verpasst“, sagt sie. Die Chance, „eine sachliche Debatte zu führen“. Wen sie damit meint ist klar: die Union. Deshalb sei nun sicher, dass die Rente in den kommenden Monaten auf der Tagesordnung stünde. Oder anders gesagt: Der Rentenwahlkampf 2017 ist eröffnet.

Denn der Regierungsgipfel im Kanzleramt bringt zwar einige Ergebnisse, aber er lässt viel mehr offene Enden. Die Koalition beendet die von ihr selbst (Horst Seehofer! Sigmar Gabriel!) im Frühjahr angestoßene Alterssicherungs-Debatte nicht mit einem großen Wurf, sondern mit Klein-Klein. Sie hat Sehnsüchte geweckt, die nun im Rennen um Mehrheiten 2017 nicht einfach vernünftig gestillt, sondern weiter angefacht werden. Wer an die Folgen des jüngsten Wahlkampfs denkt (und an das darauf folgende milliardenschwere, politisch falsche Rentenpaket), sollte beunruhigt sein.

Um eines klar zu stellen: Was die Koalition am Donnerstagabend noch an Vorhaben verabschiedet hat, geht in Ordnung. Eine bessere Erwerbsminderungsrente für Invaliden hilft jenen, die wirklich unverschuldet zu den Verlierern der Arbeitsgesellschaft gehören. Die Angleichung der Ost-West-Renten bis 2025 schafft zwar Verlierer (Ost-Arbeitnehmer) und Gewinner (Ostrentner) – aber sie ist überfällig, umfassend, wird korrekt finanziert (aus Steuern) und dank mehrerer Übergangsstufen auch verträglicher sein als Nahles` erster Vorschlag. Auch die weiteren Verbesserungen bei Betriebsrenten, Riester und die Vorsorge-Freibeträge in der Grundsicherung gehen allesamt in die richtige Richtung.

Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten

Die großen Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen aber bleiben ungelöst. Man kann dabei Andrea Nahles nicht vorwerfen, an diesem Freitag keine Antworten mitgebracht zu haben. Sie hat sogar sehr viele. Doch sind sie in Summe fragwürdig. Als dezidierter Vorschlag für ein SPD-Rentenwahlprogramm taugen sie ganz sicher. Als  Regierungspolitik nur bedingt.

Da wäre die „doppelte Haltelinie“ bis ins Jahr 2045, bestehend aus einem Rentenniveau von nicht weniger als 46 Prozent und einem Beitragssatz von bis zu 25 Prozent. Der Kraftakt bei der Niveau-Stabilisierung wird über stark steigende Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber erkauft, die genau das gefährden könnten, was Grundlage jeder funktionierenden Rentenpolitik bleiben muss: ein Arbeitsmarkt mit vielen Jobs. Zumal Nahles diesen Verteilungskampf zusätzlich über eine weitere Steuerspritze namens Demografiezuschuß lösen will. Der unbekannte künftige Finanzminister, der die nötigen Milliarden in den zwanziger- und Dreißigerjahren einmal bezahlen muss, kann praktischerweise noch nicht protestieren.

Wer für die Jahre 2030 bis 2045 – angesichts der Millionen von Babyboomern im Ruhestand -  aufrichtig nachhaltige Lösungen anbieten wollte, müsste auch über ein weiter steigendes Renteneintrittsalter sprechen. Nahles will dies aber explizit nicht. Angesichts der ihr verbundenen Gewerkschaften ist das politisch nachvollziehbar. Ein Fehler bleibt es dennoch.

Die 10 schlimmsten Fehler bei der Vorsorge
Schlecht informiertDie Deutschen kaufen Autos, Computer, Küchengeräte und gehen auf Reisen. Vor dem Kauf werden oft zahlreiche Testberichte gelesen. Geht es allerdings um Versicherungen und die eigene Vorsorge, sieht dies anders aus. Dabei sind ausreichende Informationen wichtig, um teure Fehlabschlüsse zu vermeiden. Quelle: Institut GenerationenBeratung IGB Quelle: Fotolia
Lückenhafte VorsorgeOft werden einzelne, wichtige Teile der Altersvorsorge vergessen. Dazu gehören: 1) individuelle Vorsorgevollmacht 2) Patientenverfügung 3) Klärung der Finanzen im Pflegefall 4) Testament Quelle: Fotolia
Die falschen Berater„Freunde, Familie und Bekannte in alle Vorsorgefragen einzubeziehen, ist wichtig und stärkt die Bindung zueinander. Doch sich allein auf ihren Rat zu verlassen, wäre fatal“, sagt Margit Winkler vom Institut GenerationenBeratung. Denn nur ausgebildete Finanzberater könnten auch in Haftung genommen werden. Sie sind verpflichtet, alle besprochenen Versicherungen und Vorsorgeprodukte zu dokumentieren. Quelle: Fotolia
Vorsorge ist nicht gleich VorsorgeJeder sollte seine Altersvorsorge an seine eigenen Bedürfnisse anpassen, pauschale Tipps von Beratern oder Freunden taugen in der Regel wenig. Je nach Familiensituation können andere Versicherung und Vorsorgeleistungen wichtig sein. „Vor allem in Patchwork-Situationen oder bei angeheirateten Ehepartnern gelten andere Spielregeln in der Vorsorge", sagt Winkler. Quelle: Fotolia
Schwarze Schafe Deshalb ist bei der Auswahl des Beraters Vorsicht geboten, in der Branche sind schwarze Schafe unterwegs. Geht ein Berater nicht auf die persönliche Situation ein oder preist ein bestimmtes Produkt besonders an, sollten die Kunden hellhörig werden.
Informiert ins GesprächWer Fehlern im Zuge von Falschberatung entgehen will, der muss sich vorher selber informieren. Je besser der Kunde im Beratungsgespräch selber informiert ist, desto eher kann er schlechte Berater enttarnen. Quelle: Fotolia
Vorsorge-FlickenteppichBeraterin Winkler warnt davor, zu viele Verträge bei vielen verschiedenen Beratern abzuschließen. Am Ende drohten Versicherte, den Überblick zu verlieren, besser sei eine ganzheitliche Lösung, die auf die individuelle Situation abgestimmt ist. Quelle: Fotolia

Und dann wäre da noch der Vorschlag einer neuen Solidarrente für Geringverdiener. Dass Nahles das Konzept der solidarischen Lebensleistungsrente über Bord geworfen hat, ist richtig. Es taugte nicht. Aber auch der neue Vorschlag hat eine fundamentale Schwäche, weil er 35 Beitragsjahre als Zutrittsschwelle markiert, um in den Genuss des Aufschlags auf die Grundsicherung zu kommen. Sind 30, 25 oder sogar 15 Jahre Arbeit etwa keine Lebensleistung, die sich in Rentenansprüchen manifestieren sollte, die höher als Hartz IV sind? Was die Ministerin vorschlägt, bleibt willkürlich.

Wer gearbeitet hat, soll mehr haben, als der, der nicht gearbeitet hat, sagt Nahles voller Nachdruck an diesem Morgen. Da hat sie Recht. Nur die Idee, wie das auch wirklich fair und für alle umgesetzt werden kann – die hat sie nicht.

Nun darf man gespannt sein, mit welchen Vorschlägen die Union in den heraufziehenden Rentenwahlkampf geht, den vorher angeblich keiner wollte. Die CSU, so viel steht fest, wird wieder mit einer nochmals erhöhten Mütterrente – ihren Schlager von 2013 – werben. Sinnvoll, gerecht und billig ist das auch vier Jahre später nicht. Wollen CDU/CSU dafür ein höheres Renteneintrittsalter? Wollen sie ein geringeres Garantie-Rentenniveau und niedrigere Beiträge? Wer weiß.

Es gibt Momente, da wünscht man sich mutige Reformer. Was macht eigentlich Franz Müntefering?

 

 

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