Rentenreform erreicht den Bundestag Wie Schwarz-Rot jegliche Gerechtigkeit sprengt

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Und Tschüss - Die Frühverrentungsgefahr

Eine Bewohnerin eines Pflegeheims im Frankfurter Ortsteil Praunheim. Quelle: dpa

Wochenlang lag zwar eine präzise Kostenschätzung aus dem Gesetzentwurf vor, aber sonst – nichts. Kein Wort des Ministeriums, wie viele Ältere die Rente ab 63 denn nun in Anspruch nehmen könnten. Bis der Grünen-Abgeordnete Markus Kurth die Zahlen durch hartnäckige Nachfragen aus dem Ressort herauslockte. Demnach könnten schon in diesem Jahr insgesamt 200.000 Menschen von der abschlagsfreien Rente Gebrauch machen – das wäre fast jeder Dritte, der anfangs in den Ruhestand geht. In Zukunft dürfte nach Einschätzung der Regierung etwa jeder vierte Neurentner die Bedingungen für den vorzeitigen Ausstieg erfüllen. Allein für die Jahre 2016 bis 2018 schätzt das DIW, dass sich mehr als 190.000 erfahrene Spezialisten tatsächlich früher von Büro oder Werkbank verabschieden werden.

Lebenserwartung Neugeborener in Deutschland

Dabei findet sich im jüngsten Fachkräftebericht, erst eine Woche alt, folgender Satz: „Insbesondere bei den über 60-Jährigen bestehen weiterhin Potenziale, noch stärker zur Fachkräftesicherung beizutragen.“ Wie sich das mit den Rentenplänen verträgt, bleibt ein schwarz-rotes Geheimnis. Fatal dabei: Ausgerechnet die Jahrgänge 1952 bis 1963, die von der Sonderregel profitieren, gehören zu den geburtenstärksten. Maximal noch 10, 15 Jahre stehen sie voll im Erwerbsleben, dann lassen die Babyboomer die demografische Waage quasi über Nacht kippen. Nun kommt all das noch schneller.

Vollends schädlich würde diese Politik, wenn die geschickte Kombination aus Arbeitslosengeld und abschlagsfreier Rente den Jobausstieg sogar mit 61 oder 62 ermöglichen würde. Gleich zweimal saßen vergangene Woche die Rentenexperten der Fraktionen zusammen, erst mit der Ministerin, dann mit ihrem Staatssekretär Jörg Asmussen, um mögliche Gegenstrategien zu beraten. Die Union will Arbeitslosigkeit nur bis zu einem Stichtag anrechnen, die Sozialdemokraten lehnen das empört ab. Sie wollen lieber die Arbeitgeber für die Kosten aufkommen lassen, wenn Ältere entlassen werden, und die Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld ausweiten. Ein Konsens? Nirgends in Sicht. In Sachen Frühverrentung ist sich die Koalition nur in einem einig: dass sie sich gar nicht einig ist.

Im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes warb Andrea Nahles jüngst noch um Verständnis. Sie habe bei der Frührente noch mehr machen wollen – allein, das Geld fehle. In der Tat folgt die politische Kalkulation dem Prinzip Tarnung: Wie viel Schönes kann ich tun, ohne dass in dieser Wahlperiode die Rechnung präsentiert wird? Die Finanzierung der Rentenpläne ist dermaßen auf Kante genäht, dass schon eine kleine Konjunkturdelle die großkoalitionäre Camouflage zerstören würde.

Genau das aber könnte passieren – weil die Reform selbst wie eine Aufschwungbremse wirkt. „Facharbeiter gehen früher in Rente, hohe oder steigende Sozialbeiträge senken gleichzeitig die Anreize für Neueinstellungen“, bilanziert DIW-Chef Fratzscher. Die Politik der großen Koalition wird somit Dynamik kosten, da sind sich auch die Forscher des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung sicher. Rund 17.000 Arbeitsplätze dürften nach ihrer Rechnung verloren gehen, Jahr für Jahr. „Unterm Strich“, sagt auch Fratzscher, „wird die Rentenreform einen eher negativen Einfluss auf das künftige Wachstumspotenzial Deutschlands haben.“

Wenn das mal kein schlecht angelegtes Geld ist.

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