Wenn Andrea Nahles gute Argumente für ihre Politik sucht, dann stellt sie sich am liebsten Menschen vor, die sie kennt. Ihren Vater zum Beispiel. Oder ihre Nachbarin. Nahles’ Vater hat sich als Maurer auf dem Bau Rücken und Schultern ruiniert, nach mehr als vier Jahrzehnten Plackerei war er dann mit Anfang 60 „schwer angeschlagen“. Und in dem Eifeldorf, in dem die Ministerin wohnt, hat ihr eine Nachbarin vor Kurzem mitten auf der Straße Mut zugesprochen. Diese Mütterrente sei „Anerkennung für Frauen wie mich“, hat die Bekannte gesagt.
In diesen Momenten glaubt die SPD-Politikerin, dass sie alles richtig macht. „Konkrete Menschen“ und ihre Geschichten sind es, aus denen sie ihre Kraft zieht, wenn die Akten mal wieder besonders trocken sind oder die Kommentare in den Zeitungen besonders kritisch. Ihr Vater musste am Ende mit 61 Jahren in Rente gehen und dafür gehörige Abschläge hinnehmen. Gerecht fand Nahles das nie. Heute ist die Maurertochter Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Herrin über den größten Etat der Regierung, und ihr politischer Kampf für das, was sie vehement „mehr Gerechtigkeit“ nennt, hat unverkennbar eine starke biografische Note.
Man darf sich die ehemalige Generalsekretärin also als Überzeugungstäterin vorstellen. Sie wirkt in diesen Tagen entschlossen, unbeirrbar und mit sich im Reinen. Da möge die Kritik prasseln, wie sie will. Ob EU-Kommissare, SPD-Altvordere wie Gerhard Schröder oder Franz Müntefering, Wirtschaft oder Wissenschaft, sogar die Kirche – selten war die Phalanx der Mahner und Warner größer und ihre Meinung einhelliger: Das schwarz-rote Rentenpaket ist grotesk teuer, stellt die Reformanstrengungen der Vergangenheit infrage und gefährdet ohne Not ein Altersversorgungssystem, dass auch ohne die geplanten Eingriffe genügend unter Druck geraten wird. Und was tun die Kanzlerin, der Rest des Kabinetts und die – zahlenmäßig – starke Unions-Fraktion? Zucken nur mit den Schultern.
„Die Bundesregierung legt ihre Priorität auf Umverteilung“, kritisiert Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). „Das mag politisch gewünscht sein, ist jedoch ökonomisch riskant.“ Und ein SPD-Mann wie Florian Gerster, ehemals Chef der Bundesagentur für Arbeit, sagt: „Die Ignoranz, mit der die große Koalition vorgeht, macht mich sprachlos."
Die Rentenversicherung mit ihrer jährlichen Umlagemaschinerie von einer Viertelbillion Euro muss für 35 Millionen Beitragszahler ebenso funktionieren wie für mehr als 20 Millionen Ruheständler. Die Rentenreformen der vergangenen zwei Jahrzehnte schlugen deshalb stets den Weg des geteilten Leids ein. Um das System sowohl für immer mehr und immer länger lebende Rentner als auch für Einzahler gleichermaßen akzeptabel und finanzierbar zu halten, mussten alle Seiten Opfer bringen: Die Ruheständler mit geringeren Rentenzuwächsen, die Arbeitnehmer mit Beitragssteigerungen und späterem Renteneintritt – und die Steuerzahler über steigende Bundeszuschüsse an die Rentenkasse. Alle mussten ihren Teil beitragen.
Wer hat, dem wird gegeben - Die Profiteure
Union und SPD aber haben sich entschieden, diesen Pfad zu verlassen. Wo sich üblicherweise Forderungen und Gegenforderungen in fein ziselierten Kompromissen relativieren, konstruierten die Koalitionsunterhändler aus ihren Wahlversprechen eine Milliardenbombe. Um die eigene Fragwürdigkeit (CDU/CSU-Mütterrente) durchzukriegen, schluckte man einfach die andere Fragwürdigkeit (SPD-Rente ab 63). Im Regierungsalltag führt das zu absurden Szenen. Denn es gibt kaum einen Koalitionär, der nicht im Vertrauen zugibt, dass diese Rentenreform höchst problematisch ist; besonders problematisch ist aber natürlich stets das Wunschprojekt der Gegenseite.
Das Ergebnis: Die Rentenversicherung verkommt unter der großen Koalition zu einer Wunscherfüllungsanstalt für Industrie-Gewerkschaften und den Katholischen Frauenbund – zulasten der zahlenden Mehrheit.
Die neue Regierung legt bei der Rentenreform ein hohes Tempo vor; deren Segnungen sollen bereits ab Juli 2014 greifen. Der Kreis der Profiteure ist ziemlich klar umrissen: Rund 9,5 Millionen Empfänger bekommen ihre Renten je Kind und pro Monat um rund 28 Euro (im Westen) oder 26 Euro (im Osten) aufgestockt – und in den Genuss dieses Bonus kommen vor allem Frauen.
Die abschlagsfreie Rente ab 63 funktioniert dazu als perfektes Pendant. Denn die Bedingung für den neuen vorzeitigen Ruhestand, 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung inklusive Kurzarbeitslosigkeit, erfüllen „faktisch überwiegend Männer“, wie die Rentenversicherung kritisiert. Für die Geburtsjahrgänge 1952 bis 1963 wird hier eine willkürliche Sonderbehandlung eröffnet, die die Rente mit 67 einfach unterhöhlt.
Die Parteien beglücken damit zielsicher ihre jeweilige Klientel – auf der einen Seite Hausfrauen, auf der anderen langjährige Facharbeiter, die schon als Jugendliche eine Ausbildung absolviert haben. Die allein hierfür aufzubringenden 8,5 Milliarden Euro pro Jahr kommen damit denen zugute, die mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit keiner Bevorzugung bedürfen. Die Armutsquote der Rentner ist mit knapp drei Prozent so gering wie in keiner anderen Gruppe der Bevölkerung. Das schließt die allermeisten Frauen der Hausfrauengeneration ein, die über ihre Ehemänner oder durch Witwenrenten abgesichert sind. Und Mütter, die wegen ihrer niedrigen Ansprüche Grundsicherung im Alter beziehen, werden ihren Kinderbonus ohnehin mit der Stütze verrechnen müssen. Für sie bleibt also kein bisschen mehr übrig.
Besonders grotesk ist es bei der abschlagsfreien Rente. Wer in der Vergangenheit sein Altersgeld nach besonders langjähriger Versicherungsbiografie bezog, bekam im Schnitt rund 1411 Euro – etwa 500 Euro mehr als Durchschnittsrentner. Wer, wenn nicht diese Gruppe, könnte auch in Zukunft die bislang üblichen Abschläge bei frühzeitigem Ruhestand verkraften?
Zuerst wird geplündert - Die Rechnung
Mehr als neun Milliarden Euro, später sogar elf Milliarden Euro jährlich, wird das ganze Rentenpaket kosten. Allein in dieser Legislaturperiode summiert sich die Rechnung für den gesamten Leistungskatalog auf insgesamt 32 Milliarden Euro, bis 2030 gar auf 160 Milliarden – mögliche Nachwirkungen für andere Sozialkassen oder den Fiskus sind dabei noch gar nicht eingerechnet. Wie sehr sich die Bundesregierung dabei vom einstigen Prinzip fairer Lastenverteilung entfernt, hat die Rentenversicherung in einer internen Rechnung penibel beziffert: Mit 60 Prozent müssen die Beitragszahler den Löwenanteil stemmen, 15 Prozent übernehmen die Steuerzahler, ein Viertel die Rentner. Arbeitnehmer und Arbeitgeber alleine kommen also in den nächsten 15 Jahren mit fast 100 Milliarden Euro für die Reformen auf.
Diese heftige Unwucht entsteht, weil die Bundesregierung zunächst die Beitragsrücklage der Rentenversicherung in Höhe von mehr als 30 Milliarden Euro bis 2017 fast vollständig verfrühstückt, neue Steuermittel aber nur in geringer Dosis in die Umlage träufelt. Unter den Nebenbedingungen „keine Steuererhöhungen“ und „ausgeglichener Haushalt“ wären die üppigen Wahlversprechen sonst nur mit schmerzhaften Maßnahmen zu finanzieren gewesen. Diese ungemütliche Option wollte keiner ziehen.
„Es handelt sich de facto um eine Umgehung der Schuldenbremse, wenn der Bund die Leistungsausweitung nicht über den Haushalt, sondern aus der Rentenkasse bezahlt“, kritisiert die Ökonomin Gisela Färber, Mitglied im Sozialbeirat des Bundesarbeitsministeriums. Doch derartige Warnungen werden nichts mehr ändern. Die Plünderung der Rentenkasse bildet somit die dunkle Seite von Wolfgang Schäubles glänzenden Haushaltszahlen.
So kommt die vermeintliche Gerechtigkeitsoffensive erst einmal ohne Preisschild – allerdings nur scheinbar. Schon in diesem Jahr fallen die Rentenerhöhungen wegen der gestrichenen Beitragssenkung magerer aus. Spätestens 2018 steigt dann der Beitrag sprunghaft an, parallel dazu wird das Rentenplus automatisch noch kleiner. Aufgrund der Reform wird der Beitrag in der Zukunft stärker steigen, als ohnehin nötig gewesen wäre, gleichzeitig sinkt das Rentenniveau deutlicher (siehe Grafik). Beide Kenngrößen treibt Schwarz-Rot hart an die gesetzlich gerade noch erlaubten Grenzen. „Das ist das Gegenteil von generationengerecht“, klagt Wolfgang Gründinger von der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen.
Diese Entwicklungen dürften eigentlich einer SPD-Ministerin überhaupt nicht gefallen. Höhere Versicherungsbeiträge belasten schließlich ausgerechnet die Klein- und Kleinstverdiener, die kaum oder gar keine Einkommensteuer zahlen, wie eine soziale flat tax. Und das sinkende Rentenniveau drückt gerade fleißige Arbeiter mit geringen Einkommen im Rentenalter immer näher an die Grundsicherungsgrenze. Die Delegitimierung der Rentenkasse schreitet damit voran.
Und Tschüss - Die Frühverrentungsgefahr
Wochenlang lag zwar eine präzise Kostenschätzung aus dem Gesetzentwurf vor, aber sonst – nichts. Kein Wort des Ministeriums, wie viele Ältere die Rente ab 63 denn nun in Anspruch nehmen könnten. Bis der Grünen-Abgeordnete Markus Kurth die Zahlen durch hartnäckige Nachfragen aus dem Ressort herauslockte. Demnach könnten schon in diesem Jahr insgesamt 200.000 Menschen von der abschlagsfreien Rente Gebrauch machen – das wäre fast jeder Dritte, der anfangs in den Ruhestand geht. In Zukunft dürfte nach Einschätzung der Regierung etwa jeder vierte Neurentner die Bedingungen für den vorzeitigen Ausstieg erfüllen. Allein für die Jahre 2016 bis 2018 schätzt das DIW, dass sich mehr als 190.000 erfahrene Spezialisten tatsächlich früher von Büro oder Werkbank verabschieden werden.
Lebenserwartung Neugeborener in Deutschland
Jungen: 78 Jahre und 9,3 Monate
Mädchen: 83 Jahre und 6,8 Monate
Jungen: 77 Jahre und 4,6 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 10,1 Monate
Jungen: 77 Jahre und 5,2 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 5,3 Monate
Jungen: 76 Jahre und 6,9 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 5,4 Monate
Jungen: 76 Jahre und 4,4 Monate
Mädchen: 81 Jahre und 10,2 Monate
Jungen: 77 Jahre und 7,5 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 6 Monate
Jungen: 77 Jahre und 10,4 Monate
Mädchen: 2 Jahre und 8,6 Monate
Jungen: 75 Jahre und 5,9 Monate
Mädchen: 81 Jahre und 10,6 Monate
Jungen: 76 Jahre und 10,8 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 5,6 Monate
Jungen: 76 Jahre und 10,3 Monate
Mädchen: 81 Jahre und 10,7 Monate
Jungen: 77 Jahre und 5,6 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 5,1 Monate
Jungen: 76 Jahre und 10,6 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 10,2 Monate
Jungen: 77 Jahre und 5,1 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 4,4 Monate
Jungen: 75 Jahre und 10,9 Monate
Mädchen: 81 Jahre und 5,9 Monate
Jungen: 75 Jahre und 5,8 Monate
Mädchen: 81 Jahre und 8,1 Monate
Jungen: 5 Jahre und 5,2 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 4,1 Monate
Jungen: 77 Jahre und 8,1 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 8 Monate
Jungen: 76 Jahre und 5,9 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 6,6 Monate
Jungen: 77 Jahre und 6,3 Monate
Mädchen: 82 Jahre und 7,7 Monate
Lebenserwartung Neugeborener (Basis 2007–2009), Statistisches Bundesamt
Dabei findet sich im jüngsten Fachkräftebericht, erst eine Woche alt, folgender Satz: „Insbesondere bei den über 60-Jährigen bestehen weiterhin Potenziale, noch stärker zur Fachkräftesicherung beizutragen.“ Wie sich das mit den Rentenplänen verträgt, bleibt ein schwarz-rotes Geheimnis. Fatal dabei: Ausgerechnet die Jahrgänge 1952 bis 1963, die von der Sonderregel profitieren, gehören zu den geburtenstärksten. Maximal noch 10, 15 Jahre stehen sie voll im Erwerbsleben, dann lassen die Babyboomer die demografische Waage quasi über Nacht kippen. Nun kommt all das noch schneller.
Vollends schädlich würde diese Politik, wenn die geschickte Kombination aus Arbeitslosengeld und abschlagsfreier Rente den Jobausstieg sogar mit 61 oder 62 ermöglichen würde. Gleich zweimal saßen vergangene Woche die Rentenexperten der Fraktionen zusammen, erst mit der Ministerin, dann mit ihrem Staatssekretär Jörg Asmussen, um mögliche Gegenstrategien zu beraten. Die Union will Arbeitslosigkeit nur bis zu einem Stichtag anrechnen, die Sozialdemokraten lehnen das empört ab. Sie wollen lieber die Arbeitgeber für die Kosten aufkommen lassen, wenn Ältere entlassen werden, und die Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld ausweiten. Ein Konsens? Nirgends in Sicht. In Sachen Frühverrentung ist sich die Koalition nur in einem einig: dass sie sich gar nicht einig ist.
Im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes warb Andrea Nahles jüngst noch um Verständnis. Sie habe bei der Frührente noch mehr machen wollen – allein, das Geld fehle. In der Tat folgt die politische Kalkulation dem Prinzip Tarnung: Wie viel Schönes kann ich tun, ohne dass in dieser Wahlperiode die Rechnung präsentiert wird? Die Finanzierung der Rentenpläne ist dermaßen auf Kante genäht, dass schon eine kleine Konjunkturdelle die großkoalitionäre Camouflage zerstören würde.
Genau das aber könnte passieren – weil die Reform selbst wie eine Aufschwungbremse wirkt. „Facharbeiter gehen früher in Rente, hohe oder steigende Sozialbeiträge senken gleichzeitig die Anreize für Neueinstellungen“, bilanziert DIW-Chef Fratzscher. Die Politik der großen Koalition wird somit Dynamik kosten, da sind sich auch die Forscher des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung sicher. Rund 17.000 Arbeitsplätze dürften nach ihrer Rechnung verloren gehen, Jahr für Jahr. „Unterm Strich“, sagt auch Fratzscher, „wird die Rentenreform einen eher negativen Einfluss auf das künftige Wachstumspotenzial Deutschlands haben.“
Wenn das mal kein schlecht angelegtes Geld ist.