Sprache macht Politik. Diese Regel gilt im Guten, aber auch im Schlechten. Und schmerzlich bewiesen wird sie gerade wieder einmal von der Bundesregierung – in der Rentendebatte.
Es geht in diesem hitzigen Herbst um ziemlich viel gleichzeitig: Die betriebliche Vorsorge soll gestärkt, Armut im Alter verhindert und die Renteneinheit zwischen West und Ost endlich hergestellt werden – vor allem aber soll Rettung her für das sinkende Rentenniveau. Die Parteichefs Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD) waren die Ersten, die hier politisch verwertbares Angstpotenzial witterten. Mittlerweile stellt auch die zuständige Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) gesetzliche „Haltelinien“ in Aussicht.
Ein sinkendes Rentenniveau – wer wollte das schließlich? Das Problem ist nur: Bei genauem Hinsehen ist die Lage weit weniger dramatisch, als die Wortwahl suggeriert. Denn das offizielle Rentenniveau ist kaum mehr eine fiktive Größe, die die Rentenhöhe eines Durchschnittsarbeitnehmers ausweist, der 45 Jahre lang brav eingezahlt hat. Dass diese Kennziffer in den kommenden Jahren nach unten drehen wird, bedeutet nur, dass die Renten in Zukunft weniger stark steigen werden als die Löhne – steigen werden sie aber trotzdem.
Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten
Die Prognosen beziehen sich auf den sogenannten Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer das Durchschnittseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verdient hat. Die angegebene Bruttostandardrente versteht sich vor Steuern. Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der beitragszahlenden Beschäftigten abzüglich der durchschnittlichen Sozialversicherungsbeiträge an.
Quelle: Rentenversicherungsbericht 2015, Deutsche Rentenversicherung Bund, Stand: November 2015
Beitragssatz zur GRV: 19,9 %
Bruttostandardrente: 1224 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 51,6 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1372 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,7 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1517 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,6 %
Beitragssatz zur GRV: 20,4 %
Bruttostandardrente: 1680 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 46,0 %
Beitragssatz zur GRV: 21,5 %
Bruttostandardrente: 1824 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 44,6 %
Hinzu kommt: Wer zusätzlich privat spart, dessen Altersversorgung dürfte auch ohne neuerliche Eingriffe der Regierung recht stabil bleiben – so weist es selbst der Rentenbericht der sonst so alarmierten Regierung aus. Auch dort wird zwar mit einigen fragwürdigen Annahmen operiert, aber die Botschaften bleiben dennoch richtig: Erstens: Der Lebensabend für viele ist sicherer, als es führende Koalitionäre (und auch die Gewerkschaften) derzeit weismachen wollen. Altersarmut wird kein Massenphänomen. Und zweitens: Vorsorge jenseits der gesetzlichen Rente ist so wichtig wie nie.
Union und SPD bereiten trotzdem ihre Wunschlisten vor, um sich den Bürgern noch vor der Bundestagswahl als Retter zu empfehlen. Fachleuten schwant Böses. „Verantwortungsbewusst“ solle die Politik handeln, warnt selbst der sonst so zurückhaltende Präsident der Rentenversicherung, Axel Reimann: „Die Alterssicherung der Menschen ist ein sensibles Thema, das auch im Wahlkampf seriös diskutiert werden sollte. Ich warne deshalb insbesondere vor zu großen Versprechungen, die dann später nicht zu realisieren sind.“
Zumal die Rücklage in der Rentenkasse noch üppig gefüllt ist, aber kontinuierlich schmilzt. Waren es Ende 2015 noch 34 Milliarden Euro, lag die Reserve Ende September nur noch bei 29,7 Milliarden. Erstmals seit Langem liegt sie damit unter der Marke von 30 Milliarden. Der Grund: vor allem die 2014 erhöhte Mütterrente.
Von Fakten und Argumenten unbeeindruckt
Bislang aber zeigt sich die Regierung von derlei Fakten und Argumenten unbeeindruckt. Mehr noch: Die Koalitionäre schieben unverdrossen gleich mehrere teure, wahlweise heikle bis zweifelhafte Projekte auf den Pokertisch. Die Angleichung des Ost- und Westrentenrechts würde bis zu vier Milliarden Euro pro Jahr kosten – aber die CDU, vor allem im Osten, mauert noch.
„Die Union versucht offenkundig, hinter die Regelung des Koalitionsvertrags zurückzufallen. Das geht nicht. Ich erwarte Treue zum Koalitionsvertrag“, sagt SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel.
Die CSU wiederum hat als Gegengeschäft eine weitere Erhöhung der Mütterrente ins Visier genommen – Kostenpunkt: 6,7 Milliarden Euro pro Jahr. Hier will Nahles aber partout nicht einlenken und lieber die Invalidenrente erhöhen, für rund drei Milliarden. Die teuerste Operation, die Stabilisierung des Rentenniveaus, ist dabei noch gar nicht mitgerechnet.
Die Rentenversprechen - Was die Parteien vorhaben
CSU-Chef Horst Seehofer hatte die jüngste Rentendebatte angestoßen mit der Äußerung, dass die Riester-Rente gescheitert sei und die Kürzung des Rentenniveaus die Hälfte der Bevölkerung in die Sozialhilfe führen würde. Doch ist das nicht Unionslinie. Der Unionsmittelstand fordert sogar eine Stärkung der Riester-Rente. Nach allem, was man hört, könnte die Union im Wahlkampf für ein behutsames Nachsteuern beim Rentenniveau eintreten. Das Verhältnis von Einkommen zur Rente soll wohl doch nicht auf 43 Prozent sinken können, so wie derzeit bis 2030 erlaubt. Die Union will wohl auch die Eigenvorsorge stärken. Diskutiert wird, den Bürgern ein Einheitsprodukt anzubieten.
SPD-Chef Sigmar Gabriel will verhindern, dass die Renten sich zu stark vom Einkommen abkoppeln. Menschen mit kleinem Lohn dürften im Alter nicht reihenweise auf Sozialhilfe angewiesen sein. Im Wert der Rente spiegelt sich für Gabriel auch der Wert der Arbeit. Doch die Reformagenda 2010, die auch die Rente bezahlbar halten sollte, dürfte die SPD nicht komplett zurückdrehen. Die öffentlich geförderte private Zusatzvorsorge abschaffen will die SPD auch nicht. Man will sich aber mehr um das Wohl älterer Arbeitnehmer kümmern.
Um Renten armutsfest zu gestalten, soll nach dem Willen der Partei das Rentenniveau von heute 48 Prozent wieder auf das Niveau vor den Rentenreformen der vergangenen Jahre steigen - auf 53 Prozent. Niemand dürfe nach 40 Beitragsjahren mit einer Rente über Grundsicherung abgespeist werden.
Auch die Grünen wollen, dass die Rente vor Altersarmut schützt. Sie sprechen von einem Rentenniveau von nicht unter 46 Prozent. Geringe Rentenanwartschaften sollen mit einer steuerfinanzierten Garantierente aufgewertet werden. Die rund 2,3 Millionen Selbstständigen ohne obligatorische Alterssicherung sollen verpflichtend in der Rentenversicherung aufgenommen werden.
Die Liberalen wollen flexiblere Renteneintritte möglich machen und Hinzuverdienstgrenzen neben dem Rentenbezug aufheben. Sie treten dafür ein, bei der Grundsicherung im Alter einen Freibetrag für Einkommen aus privater und betrieblicher Altersvorsorge nicht anzurechnen. FDP-Chef Christian Lindner schlug die Zusammenlegung der Grundsicherung im Alter mit der Rente vor.
AfD-Parteichef Jörg Meuthen hatte eine Rente nach Schweizer Modell vorgeschlagen - dort gibt es drei Säulen: die gesetzliche Rentenversicherung, eine kapitalgedeckte Arbeitnehmerversicherung und geförderte Anlagen in private Rentenversicherungen.
„Richtschnur muss sein, dass die Lohnnebenkosten dauerhaft unter 40 Prozent bleiben“, warnt der CDU-Mann Michael Fuchs. Doch sein Appell dürfte ungehört bleiben.
Dabei hat Schwarz-Rot durchaus auch Sinnvolles zustande gebracht. Die jüngst beschlossene Flexirente erleichtert Arbeit im Alter. Finanzminister Wolfgang Schäuble und Andreas Nahles haben sich zudem im Grundsatz auf eine Stärkung der Betriebsrenten geeinigt, die gerade Kleinunternehmen und Geringverdiener unterstützt.
Würde die Koalition in diesem Geiste weiterarbeiten, müsste sie die meisten offenen Projekte kurzerhand streichen. Stattdessen würde sie die wirklichen Problemfälle – Arbeitnehmer mit wechselvoller Jobbiografie und Kranke – gezielt angehen. Der Haken wäre aber: Wohltaten fielen dann aus.