Rita Süssmuth "Es ist unbestritten, dass wir ein Einwanderungsland sind"

Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth kämpft für ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild. Im Interview erklärt sie, wie sie die CDU davon überzeugen will und warum sie die schwarze Null opfern würde.

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Rita Süssmuth im Interview über Integrationspolitik. Quelle: imago images

Frau Süssmuth, Sie haben bereits 2001 mit Ihrer Expertenkommission einen Entwurf zu einem Zuwanderungsgesetz vorgelegt. Nun soll eine neue Kommission von Bund und Ländern ein Gesetz erarbeiten. Was versprechen Sie sich davon?

Ein umfassendes Einwanderungsgesetz ist überfällig. Wir brauchen endlich ein Gesetz, das die Themen Aufenthalt, Wohnen, Bildung, Arbeitsmarkt, Staatsangehörigkeit und Familiennachzug zusammenführt. Einwanderung muss für jedermann klar und verständlich formuliert und nachvollziehbar sein – für die einheimische Bevölkerung und für diejenigen, die zu uns kommen wollen.

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2015 sind über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Bei den jüngsten Landtagswahlen haben wir in der Folge den Aufstieg der AfD und einen Rechtsruck erlebt. Lässt sich in diesen Zeiten ein Einwanderungsgesetz überhaupt vermitteln?

Ja, wir müssen es aber sorgfältig erklären. Die Zuwanderung von Flüchtlingen ersetzt nicht die gesteuerte Einwanderung von Fachkräften. Oft kommt von der AfD das Argument, dass wir uns zuerst um arbeitslose Jugendliche aus Deutschland kümmern sollten. Das geschieht inzwischen, wir haben die geringste Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Aber selbst wenn wir jeden Arbeitslosen in Deutschland in Arbeit hätten: Unsere Gesellschaft wird trotzdem älter, die Geburtenzahlen bleiben niedrig und Fachkräfte fehlen weiterhin. Deshalb brauchen wir qualifizierte Zuwanderung.

Was Flüchtlinge dürfen

In welcher Größenordnung?

Die Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass sich die Zahl der Erwerbstätigen ohne Zuwanderung bis zum Jahr 2050 von 45 auf 29 Millionen reduzieren wird. Wir wissen nicht, ob diese Zahl genauso stimmt. Aber der Trend ist klar. Die Wissenschaftler empfehlen etwa 250.000 Einwanderer pro Jahr. Die hohe Zahl der Zuwanderer resultiert nach wie vor zu mehr als zwei Drittel aus EU-Staaten, die aufgrund der Freizügigkeit jederzeit wechseln können. Es fehlt eine größere Zahl von Zu- und Einwanderern aus Drittstaaten. Kanada hatte über viele Jahre eine ähnliche Zahl festgelegt. Je nach Lage der Konjunktur lässt sich die nach oben oder unten anpassen.

In Kanada gibt es ein Punktesystem, über das Zuwanderer ins Land geholt werden. Ein Vorbild für Deutschland?

Das Punktesystem ist für jeden verständlich. In meiner Kommission haben wir uns damals stark an Kanada orientiert. Wir haben aber auch in Richtung USA, Australien und Neuseeland geschaut. Und die Niederlande waren damals führend bei den Sprachkursen. Wir müssen uns unser eigenes Gesetz nach unseren Anforderungen gestalten.

Viele in Ihrer Partei wollen kein Punktesystem und kein Einwanderungsgesetz.

Kanada hat klare Kriterien. Dazu gehören Alter, Ausbildung, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse und die Beziehung zum Land, in das man einwandern will. Wir müssen nicht zwangsläufig Punkte vergeben. Aber jedes Land, das sich als Einwanderungsland versteht, braucht Kriterien.

Manche in der Union verstehen Deutschland aber nicht als Einwanderungsland, vor allem die CSU nicht.

Das ist eine Irreführung der Bürger und hat nichts mit der Realität zu tun. Seit Jahrzehnten kommen Menschen aus Europa und anderen Regionen zu uns, um hier zu arbeiten und zu leben. Es ist unbestritten, dass wir längst ein Einwanderungsland sind. Ich setze auf die wachsende Mehrheit der Stimmen in der CDU, die das genauso sieht.

Schwarze Null opfern, wenn es nicht anders geht

Angela Merkel gehörte vor 15 Jahren in der Frage eines Zuwanderungsgesetzes nicht gerade zu Ihren Fans. Haben Sie den Eindruck, dass sie diesmal ein Einwanderungsgesetz mittragen wird?

Davon gehe ich aus. Blicken sie allein auf das letzte Jahr. Deutschland hat in der Flüchtlingskrise unter Angela Merkel enorm viel geleistet. Beeindruckend ist vor allem, dass sich so viele Bürger ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren. Ich bin überzeugt, dass sie heute völlig anders zu dem Thema steht als vor 15 Jahren.

Der Bundesinnenminister spricht gerne davon, dass wir einfach lediglich ein besseres „Zuwanderer-Marketing“ brauchen. Im Klartext: Er will kein Einwanderungsgesetz.

Hier halte ich es mit unserem Generalsekretär Peter Tauber. Er hat gesagt, dass wir ein Einwanderungsgesetz brauchen, da nur derjenige in Deutschland eine Chance hat, der einen Arbeitsplatz vom Heimatland aus nachweisen kann. Wir brauchen kein Zuwanderungsmarketing, denn es geht nicht um Produktmarketing. Wir werben schließlich um Menschen, auf die wir angewiesen sind und die wissen müssen, was unsere Kultur und Werte sind. Das Wort Marketing ist fehl am Platz.

Wir müssen nicht stärker um qualifizierte Einwanderer werben?

Doch. Aber hier geht es um mehr als Ökonomie. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, in dem wir klären, wie Deutsche und Einwanderer zusammenleben und wie sich die unterschiedlichen Kulturen beeinflussen. Das hat doch nichts mit Marketing zu tun. Im Übrigen sendet dieser Begriff das falsche Signal an potentielle Einwanderer.

Inwiefern?

Studien der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen eindeutig: Menschen lernen am besten, wenn sie sich zugehörig fühlen. Also sollten wir ihnen auch das Gefühl geben, dass sie willkommen sind.

Vor der Bundestagswahl rechnet kaum noch jemand mit dem Gesetz. Zu wann ist es realistisch?

Wir sollten alles daran setzen, dass wir spätestens nach der Bundestagwahl 2017 rasch umsetzen können. Dafür müssen wir aber jetzt mit der Arbeit beginnen. Manches könnten wir auch sofort machen, beispielsweise die Wartezeiten für Flüchtlinge deutlich verkürzen, damit sie oft nicht erst nach 15 Monaten als Asylbewerber anerkannt werden und arbeiten können. Und wir sollten Geduldeten mit längerer Verweildauer die Chance geben, eine Ausbildung zu machen. Aber das Grundproblem, dass überwunden werden muss, ist doch der fehlende Konsens.

Vermischen Sie jetzt nicht die Themen Flüchtlinge und qualifizierte Zuwanderung?

Natürlich macht es einen Unterschied, ob jemand vor Krieg zu uns flieht oder ob er sich freiwillig entscheidet, zu uns zu kommen. Die strikte Unterscheidung ist in der Praxis aber nicht hilfreich. Beide Migrantengruppen hoffen hier auf ein existenzsicherndes mit Arbeit verbundenes  Leben. Deswegen müssen wir jetzt dringend in die Aus- und Weiterbildung von Flüchtlingen investieren.

Klingt so als würden Sie dafür im Zweifel die schwarze Null opfern wollen.

Ungern, wenn es nicht anders geht, ja. Es zahlt sich am Ende aus. Entweder arbeiten die Menschen hier und tragen ihren Teil über Steuern bei. Oder sie gehen irgendwann zurück und profitieren von ihren Erfahrungen in Deutschland. Das ist die beste Entwicklungshilfe, die es nur geben kann. Deutschland gewinnt also in jedem Fall.

Wenn die neue Kommission um ihren Rat bitten sollte – stehen Sie dann bereit?

Das Thema ist mir eine Herzenssache. Wenn ich gefragt werde, bringe ich mich gerne ein.

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