Serdar Somuncu "Das ist 1:1 Hitler"

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"Die Devise lautete immer noch Verbieten und Verdrängen"

Deutschland scheint aber doch das einzige Land in Zentraleuropa zu sein, in dem es keinen institutionalisierten Rechtsextremismus gibt.

Mit dieser Behauptung wäre ich vorsichtig. Wir haben vor vier Wochen noch über Pegida gesprochen. Die Zahl der Übergriffe ist konstant geblieben oder mehr geworden in den vergangenen Jahren. Auch die kruden Thesen Thilo Sarrazins wurden noch vor kurzem von großen Teilen der Bevölkerung bestätigt - wie könnte sich das so schnell geändert haben? Die Debatten kommen und gehen, die Richtungen wechseln je nach Stimmung. Und die Parteien nutzen diese Stimmungen, indem sie diesen Ausläufern eine institutionelle Heimat bieten. Ich fürchte, auch die Willkommenskultur ist ein vorübergehendes Phänomen. Sie ist nicht manifest.

Immerhin stellen sich selbst konservative Politiker nicht mehr in Fußgängerzonen und wettern gegen Ausländer, wie noch vor 15 Jahren.

Weil das im Moment keine Wählerstimmen bringt. Noch. Wir stehen jetzt am Rande einer neuen Entwicklung. Die Parteien werden in den nächsten Wochen wieder ins extremere Gegenteil fallen. Es gibt mittlerweile in jeder europäischen Gesellschaft einen Anteil von 10 bis 20 Prozent rechtsextremen Wählern. Zuwanderung, Islamismus und Terror stärken diese Kräfte. Die Frage ist, wie wir in Deutschland damit umgehen: Im Affekt reagieren und machtlos bleiben oder werden wir uns auf einen Diskurs über eine innere Erneuerung unserer Gesellschaft einlassen und uns argumentativ einer Lösung nähern?

Sie fordern in Ihrem Buch, den Verkauft von "Mein Kampf" in Deutschland freizugeben. Wie soll ausgerechnet das bei den Problemen, die Sie schildern, helfen?

Die Debatte um die Freigabe ist vor allem ein Indikator dafür, wie wir heute mit den Hinterlassenschaften der Geschichte umgehen. Die Devise lautet leider immer noch verbieten und verdrängen statt zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit "Mein Kampf" könnte helfen, die Ursprünge des Übels zu begreifen. Vor allem aber ist sie überfällig, denn das Verbot schützt nicht vor Interesse.

Inwiefern spielen bei den jetzigen Protesten gegen Flüchtlinge eher materielle als wirklich nationalistische Gründe eine Rolle? Viele Deutsche haben vielleicht einfach nur Verlustängste.

Das materielle ist sicher ein Aspekt. Ein anderer ist, dass wir in unterschiedlichen Milieus diskutieren. Wenn Sie sich anschauen, wer die Willkommenskultur propagiert, sind es eher Linke oder Vertreter aus der intellektuellen Mittelschicht. Auf der anderen Seite argumentieren diejenigen, die für ein rückwärts gewandtes Deutschlandbild sind: ohne Zuwanderung und ohne Flüchtlingsheime. In der Mitte dieser beiden Blöcke gibt es eigentlich nichts.

Keinen Ansatz, der hinterfragt und gesamtgesellschaftliche Lösungsmöglichkeiten erörtert. Sondern nur affektgesteuerte Anteilnahme oder Ablehnung. Vor allem aber wird nicht über den eigenen Anteil an der Ursachen dieser Katastrophe gesprochen. Jahrelang haben wir das Elend der Menschen ignoriert, die nicht in Freiheit, Frieden und Wohlstand leben konnten. Flüchtlinge gab es schon immer. Wir müssen nicht unser Verhalten umstellen, sondern unsere Haltung muss sich ändern.

Klingt vage...

Wir dürfen unseren Wohlstand nicht darauf aufbauen, dass anderswo auf der Welt Menschen zu Hungerlöhnen schuften. Wir können nicht an der Börse in Waffengeschäfte investieren, Konflikte schüren und uns dann beschweren, dass die Opfer von Kriegen zu uns kommen. Wir dürfen nicht die Ressourcen anderer Länder verprassen, damit wir günstig Auto fahren können, sondern wir brauchen eine weltweite Verteilungsgerechtigkeit und notfalls einen Verzicht auf Privilegien. Solange wir solche Widersprüchlichkeit nicht hinterfragen, bleiben wir den Folgen ausgeliefert.

Das Buch „Der Adolf in mir" von Serdar Somuncu erscheint am 19.10. In Ausgabe 43 der WirtschaftsWoche lesen Sie einen exklusiven Auszug aus dem Buch.

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