Serdar Somuncu

Freie Meinung? Ist überschätzt

Je mehr Menschen ihre Meinung posten, desto bedeutungs- und nutzloser wird sie. Gegen den Meinungsmüll im sozialen Netz hilft nur eins: ein Zentralkomitee für Ausdruck und Stil. Eine Kolumne.

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Serdar Somuncu ist Kabarettist und Buchautor. Quelle: Laif

Die Zeit der Begeisterung ist vorbei. Facebook, Twitter, YouTube und wie sie alle heißen, nerven nur noch. Meinung ist mittlerweile so inflationär, dass sie an Bedeutung verloren hat. Je mehr geschrieben wird, desto beliebiger ist es. Je mehr Kanäle man Leuten einräumt, um ihre Meinung zu posten, desto mehr nutzloseres Zeug kommt heraus.

Netzwerke und Plattformen, die ursprünglich dazu gedacht waren, unser Leben zu erleichtern und neue Verbindungen herzustellen, sind Sammelbecken geworden für Nerds, Hetzer und Hasstiraden. Jede Kommentarspalte ist mittlerweile eine Einladung zur öffentlichen Entblößung hemmungsloser Eitelkeit, schamloser Beleidigungen und belehrender Arroganz.

Am Ende landen wir doch immer bei dem, was wir im Innersten sind: kleine hilflose Voyeure, die eine große Klappe immer nur dann haben, wenn man sie nicht braucht. Besserwisser, Klugscheißer, Nörgler und paranoide Verschwörungstheoretiker, die sich im Rampenlicht der Öffentlichkeit in ihre Wahnwelt hineinsteigern. Es ist so, als würde man Verhaltensgestörten Zugang zur Schaltzentrale unseres Sozialverhaltens gewähren und ihr Pöbeln so lange zulassen, bis am Ende kein Stein mehr auf dem anderen steht.

Zur Person

Dann doch lieber die geschminkte Wahrheit. Ich lebe lieber in der Illusion einer anständigen Welt als in der Ernüchterung unseres realen Umgangs. Wir müssen also zurück zur Meinungsdiktatur. Wir brauchen eine Instanz für Inhalte. Etwas, das unsere unkontrollierten Gedankenexkremente zensiert und filtert. Ein ZK für Ausdruck, Rechtschreibung und Stil. Vor allem müssen wir wieder den Aufwand erhöhen, den es bedarf, um sich und seinen Worten Gehör zu verschaffen. Leserbriefe müssen mühsam per Hand geschrieben und abgeschickt werden. Eine angemessene Karenz zwischen Impuls und Ausführung muss gewahrt bleiben. Und nur noch Eins-zu-eins-Kontakte sind erlaubt. Keine öffentlichen Debatten mehr, mit Tausenden von Mitlesenden, die allesamt ihren Senf dazugeben.

Vor allem bin ich diesen Krieg der besseren Gedanken satt. Kann man dem anderen nicht einfach zuhören, ohne es ständig in seinen eigenen Kontext einzuordnen und darüber nachzudenken, wie man ein noch besseres Argument findet? Wir sprechen nicht mehr miteinander, um etwas über den anderen zu erfahren, sondern wir nehmen das, was er sagt, nur noch zum Anlass, um unsere eigenen Gedanken loszuwerden und ihn damit zu überfahren.

Das Internet hat uns lange suggeriert, die totale Demokratie zu sein; Heute ist es nur noch eine Diktatur des Belanglosen. Solange wir unfähig sind, verantwortungsvoll mit der Freiheit des Netzes umzugehen, bleiben wir auch der Unberechenbarkeit seines Missbrauchs ausgeliefert. Unsere digitale Beziehungsfähigkeit ist abgenutzt. Social Media ist am Ende. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir zurückkehren zu den einfachen Wegen, die wir im Rausch der immer größer werdenden Möglichkeiten lange Zeit als altbacken verpönt haben. Ein schönes Gespräch, ein verstehender Blick, ein tröstendes Wort und ein kluger Gedanke.

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