Serdar Somuncu

Hallo Kanzleramt, ist da wer?

Das Zaudern von Kanzlerin Angela Merkel ist zum Steigbügel für Extremisten und Spalter geworden.

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Serdar Somuncu ist Kabarettist und Buchautor. Quelle: Laif

Düstere Aussichten für die ewige Konsenskanzlerin. Sie steckt in der Zwickmühle. Auf der einen Seite erhöht sich der Unmut der Bestätigten – jeder Anschlag ist ein willkommener Anlass für Hetzer und Extreme, sich weiter gegen die Mehrheit der Gesellschaft zu stellen und ein Wegschauen vor dem Leid der anderen zu propagieren. Auf der anderen Seite hat Merkel durch ihre fragwürdigen Zugeständnisse an den türkischen Präsidenten Erdoğan erst möglich gemacht, dass die EU gegenüber einem ihrer unberechenbarsten Antragsteller in Bedrängnis gekommen ist.

Und dann auch noch der Brexit und schwindende Koalitionsoptionen. Angela Merkel hat viele Talente und ein Gespür für Machterhalt, aber eines kann sie nicht: sich klar und deutlich positionieren. Das könnte ja bedeuten, dass ihre seltsame Popularität als ausdauernde Verhandlerin darunter leidet. Doch das Zaudern der Kanzlerin ist zum Steigbügel für Extremisten und Spalter geworden.

Ich sehe ein düsteres Bild für die vor uns liegenden Jahre. Die AfD wittert Morgenluft. Jeder Anschlag ist zugleich auch Bestätigung ihrer xenophoben Panikmache, und jede Meldung über missglückte Integrationsversuche und gescheiterte Toleranz ist Ansporn für einen noch radikaleren Wahlkampf. Gleichzeitig schweigen diejenigen, die im letzten Sommer noch „Refugees welcome“ gebrüllt haben.

Wo ist jetzt ihr Mut, sich hinter ihre Auffassung zu stellen? Zweifelt man mittlerweile etwa selbst daran, dass es richtig gewesen sein könnte, so viele Menschen unkontrolliert ins Land gelassen zu haben? Oder fürchtet man sich davor, den offenen Konflikt mit den Radikalen einzugehen?

Ein seltsame Starre hat auch die Oppositionellen befallen. Ob in Deutschland oder in der Türkei, ob in England oder in Europa – es scheint, als hätte man Angst vor der eigenen Courage und würde das Feld lieber denjenigen überlassen, die einfache Lösungen anbieten, weil man selbst keine bessere hat.

Die Lösung aber liegt nicht auf der Straße, und sie bedeutet auch nicht, dass wir uns weiter abschotten. Sie muss bedeuten, dass wir endlich anfangen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, anstatt die Unterschiede zu betonen.

Ob der Islam zu Deutschland gehört oder die Türkei EU-Mitglied werden soll – all das darf keine Rolle mehr spielen bei der Frage danach, wie wir diese Welt und ihre unterschiedlichen Auffassungen wieder näher zusammenbringen können. Alles andere führt in einen Krieg der Gesinnungen, den wir durch eine zögerliche Haltung nicht vermeiden werden.

Unsere Kanzlerin könnte ihre Amtszeit krönen, indem sie diesen Schritt geht und endlich den Mut zeigt, nicht nur Entscheidungen vor sich herzuschieben, sondern auch eine Politik zu machen, die manchmal eindeutig ist. Und vielleicht sogar unangenehm sein kann. Fest steht: Sie muss schnell handeln. Sonst gibt sie zwangsläufig die Verantwortung an andere ab.

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