Sigmar Gabriel als SPD-Chef Von „Siggi Pop“ zu Mister Wirtschaft

Er gilt als einer der begabtesten Politiker Deutschlands. Am Sonntag ist Sigmar Gabriel dienstältester SPD-Chef seit Willy Brandt. Wie er die SPD zurück zu alter Stärke führen will. Und wie er gegen Vorurteile kämpft.

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Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel will die SPD wieder stark machen. Quelle: dpa

Berlin Die Zahlen, die Richard Hilmer von infratest dimap zusammengetragen hat, sind ernüchternd. Nur 22 Prozent trauen der SPD derzeit eine gute Wirtschaftspolitik zu. 7,8 Millionen Wähler hat die Partei seit dem rot-grünen Wahlsieg 1998 verloren.

Und die gern beschworene linke Mehrheit gibt es derzeit keineswegs: SPD, Linke und Grüne kommen demnach aktuell nur auf 43 Prozent. Auch beim Personal kann nur Außenminister Frank-Walter Steinmeier richtig stark punkten.

Die Bestandsaufnahme von Mitte Oktober wird herumgereicht, Nervosität und Ratlosigkeit sind unter Sozialdemokraten allerorten spürbar. Eine schwierige Lage für den Wirtschaftsminister und Parteichef Gabriel. Dabei redet er sich den Mund fusselig.

Beschwört die Genossen, macht- und selbstbewusster zu sein. Sich nicht in Flügelkämpfen zu beharken. Am 23. November ist Sigmar Gabriel der am längsten amtierende SPD-Vorsitzende seit Willy Brandt. Eine stolze Leistung, ohne Frage.

Das sagt aber auch viel über die SPD in den „Nullerjahren“. Von 2004 bis 2009 führten die Partei: Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Matthias Platzeck, Kurt Beck, kommissarisch Frank-Walter Steinmeier und noch mal Müntefering.

Damals ging im Zuge der Agenda 2010, der Rente mit 67 und einer gegen alle Versprechen vollzogenen Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Punkte viel Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren. Eine Hypothek bis heute. Hinzu kommt, dass die SPD laut Hilmers Analyse am unattraktivsten für die 25- bis 44-Jährigen ist.

Die wollen heute oft Teilzeitmodelle, viele in der SPD sehen Frauen und Männer aber lieber in Vollzeit, das Kind in der Kita. Modernität und Fortschritt werden heute nicht unbedingt mit der SPD verbunden, dabei war sie oft Taktgeber.

Jetzt will Gabriel vor allem eine Antwort auf die digitale Revolution erarbeiten, die Arbeits- und Privatleben verändert. Mit fünf Jahren und zehn Tagen im Amt überholt er nun Schröder. Beide haben viel gemein: Hemdsärmligkeit, den Aufstieg aus einfachen Verhältnissen - und viel politischen Instinkt.


Vom Pop-Beauftragten zum rhetorischen Genie

Der Weg war weit, geprägt von einem Auf und Ab: einst jüngster Ministerpräsident. Abgewählt und dann Popbeauftragter der SPD. Der Spitzname „Siggi Pop“ klebte lange wie Kaugummi an seinen Schuhen. Ebenso das Image des Unbeständigen, des Vorlauten, des Vorschnellen.

Noch weiter könnte der Weg der SPD zurück zur Macht sein. So wie es aussieht, könnte er 2017 Kanzlerkandidat werden. Einige Genossen meinen aber, nicht ruhig schlafen zu können, wenn er Kanzler wäre. Der gelernte Berufsschullehrer kämpft darum, Vorurteile zu entkräften. Kaum einer im Bundestag kann besser reden als er. 2009 beim SPD-Parteitag in Dresden riss er die Mitglieder nach dem Wahldebakel von 23 Prozent und Münteferings Rückzug von den Stühlen.

Seither ist Gabriel im Amt. „Wir dürfen uns nicht in die Vorstandsetagen und Sitzungsräume zurückziehen“, rief er den Genossen damals zu. „Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. (...) Wir müssen raus ins Leben, dahin, wo es laut ist, dahin, wo es brodelt, dahin, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist, liebe Genossinnen und Genossen, weil nur da das Leben ist!“

In diesem August stattete er dem Ortsverein Bochum-Hamme binnen weniger Monate den zweiten Besuch ab. Seine Frau interpretierte es als Drücken vor der Gartenarbeit. Aber der sonntägliche Ausflug von Goslar nach Bochum sagt viel über den Politiker Gabriel. Der Vizekanzler ist seither Ehrenmitglied der kratzbürstigen Genossen, die Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement aus der Partei drängten.

„Wenn die Sozialdemokraten sich kümmern, dann haben sie auch Wahlerfolge“, meinte Gabriel nach der Stippvisite im „Pott“. Für ihn sind die Hammer Vorbild, wenn es darum geht, dass die SPD wieder näher an den Puls der Menschen rückt; ihre Alltagskompetenz stärkt; versteht, was Heimat bedeutet, wo der Schuh drückt. Er fühlt sich bei solchen Veranstaltungen wohler als bei Sekt-Empfängen in Berlin.

Wenn es nicht anders geht, übernachtet Gabriel in der Hauptstadt in der Vorsitzenden-Wohnung oben im Willy-Brandt-Haus. Sonst fährt er mit dem Zug nach Braunschweig, dann weiter mit dem Auto nach Goslar. Als Lebenstraum gab er bei seinem 50. Geburtstag mal an, Oberbürgermeister seiner niedersächsischen Heimatstadt zu werden.


Noch im Schatten von Schröder und Schmidt

Der 55-Jährige will die SPD aus dem Tief, in das sie bis 2009 hineingeschlittert war, schrittweise herausführen. In seiner Amtszeit verlor die SPD weitere 38.000 Mitglieder, das liegt im Trend. Sein Verdienst ist es, die SPD geeint zu haben. Er hat sie in die große Koalition geführt, sie war über Monate geschlossen wie lange nicht. Und mit Mitgliederentscheiden wird die Basis-Beteiligung gestärkt.

Vom Mindestlohn bis zum Rentenpaket wurde eifrig geliefert. Aber wie betoniert liegt die Partei in Umfragen bei 25 Prozent. Wofür steht sie, was ist ihr Profil? Will sie Mitte sein, wie immer die definiert und verortet wird? Zum Verdruss der Parteilinken erklärte Gabriel neulich die Vermögenssteuer, 2013 noch im Wahlprogramm, für tot. Ohne Absprache - das wirkte fast wie Basta-Politik im Stile Schröders.

Die Grünen, einst Wunschpartner, gehen auf Konfrontation zu seinem Einsatz für Kohlekraftwerke. Das Wirtschaftsprofil ist eher diffus. Und die Partei macht Druck, die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada zu blockieren, wenn sie Schutzklauseln vorsehen, mit denen Investoren nationales Recht vor Schiedsgerichten aushebeln können. Durch ein Zugeständnis an die Parteilinke und einen entsprechenden Parteibeschluss im September ist Gabriel hier Gefangener seiner selbst. Denn Schutzklauseln zu verhindern dürfte sehr schwer werden.

Noch steht er deutlich im Schatten von Schröder, Helmut Schmidt und Willy Brandt. Und wenn er 2017 scheitern sollte, wäre er dann weg? „Warum?“, fragt einer aus seinem Umfeld. „Willy Brandt hat auch mehrere Anläufe gebraucht.“ Brandt war auch 23 Jahre Chef der ältesten demokratischen Partei Deutschlands. Gabriel ist zwar immer für Überraschungen gut: Aber die Marke wird er wohl kaum schaffen.

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