Sigmar Gabriel auf Sommertour Warmpoltern im Pott

Mitten in der Sommerpause tourt Sigmar Gabriel durch den Pott. Hier im Ruhrgebiet, direkt an der Basis will sich der SPD-Chef für den Wahlkampf warmlaufen – und poltert schon mal kräftig gegen die Rente mit 69.

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Sigmar Gabriel reist für zwei Tage durch das Heimatland der SPD: das Ruhrgebiet. In Oberhausen besichtigte er zusammen mit NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (rechts) eine Großbaustelle. Quelle: dpa

Essen Sigmar Gabriel eilt gerade zum Fototermin in Richtung des mächtigen Förderturms der Essener Zeche Zollverein als ihm zwei Radfahrer entgegenkommen. „Na los, fahren Sie ruhig durch“, ruft er. Aber das Ehepaar ist in Urlaubslaune und möchte jetzt ein wenig quatschen mit ihrem Minister. Der Mann, so stellt sich heraus, ist Gabriels Nachbar, zumindest im Job. Er führt eine Praxis für Psychotherapie und Coaching in der Berliner Stresemannstraße – und an der liegt auch die SPD-Parteizentrale. „Sie können mir ja ab und an ein paar Leute von Ihnen vorbeischicken“ scherzt er. Großes Gelächter in der Delegation. Dann sagt Gabriel: „Es gibt Stunden, da wäre das auch nötig bei mir.“

Ein Scherz. Andererseits hat der SPD-Chef auch schon bessere Zeiten erlebt. Erst zieht Rewe gegen den Wirtschaftsminister vor Gericht, dann verheddert sich Gabriel beim Thema TTIP in der eigenen Argumentation. Die Union treibt seine SPD beim Thema Innere Sicherheit vor sich her. Und nun legt sich Gabriel auch noch mit Umweltministerin Barbara Hendricks wegen der anstehenden Reform des europäischen Emissionshandels an.

Die Tour durch den Pott soll da wie eine Heilkur wirken. Kraft tanken an der Basis. Aufwärmen für anstehende Wahlkämpfe. Ein bisschen auf den Putz hauen. Wo könnte das besser gehen als hier? Noch immer lebt ein gutes Drittel aller SPD-Mitglieder in der ehemaligen Kohleregion. Noch immer wohnt hier die Seele der Partei. Am Vortag war Gabriel in Witten und Oberhausen. Da hat er Strukturhilfen für den Ruhrpott gefordert. Seine Presseleute reichen die Mappen mit den ausgedruckten Artikeln untereinander herum.

Für heute haben sie einen besonders symbolischen Ort gewählt: Das Projekt „Schacht One“. Eine Digitalschmiede auf dem Gelände eines ehemaligen Steinkohlebergwerks in Essen. Vor mehr als 150 Jahren riss der Duisburger Unternehmer Franz Haniel hier zum ersten Mal begehrte Fettkohle aus der Tiefe. Jetzt will die Duisburger Daniel-Holding digitale Ideen sprießen lassen. Wo früher Maschinen schnauften sitzen nun junge Menschen mit Hornbrillen vor Laptops. Metallregale haben sie durch Konstruktionen aus Holzkisten ersetzt. Es ist die Geschichte vom Strukturwandel, die heute erzählt werden soll. Sich neu erfinden. Gewagte Wege gehen.

Das passt natürlich wunderbar zu Gabriel. Auch er soll die SPD ja aus der Misere führen, im Bundestagswahlkampf, bei den Landtagswahlen davor und überhaupt. Und wie das Ruhrgebiet braucht seine Partei einen Strukturwandel, einen Kraftschub, einen Sieg.

Die nächste Gelegenheit dazu gibt es bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Noch regieren dort Sozialdemokraten. Aber sowohl Erwin Sellering als auch Michael Müller könnten ihre Ämter verlieren. Die Landtagswahlen werden so zum Stimmungstest – auch für Gabriels Zukunft. Der SPD-Chef braucht einen Erfolg. Sonst wackelt auch seine Kanzlerkandidatur.


Gabriel wirft den Wahlkampf-Modus an

In Essen wirft er dafür schon einmal den Wahlkampf-Modus an. Nach dem Plausch mit den Radfahrern lotst eine Pressefrau den Reportertross in den Schatten. Die Kameras laufen, dann mal los. Was Gabriel von einem Renteneintrittsalter von 69 Jahren halte, fragt ein Journalist. Die Bundesbank hatte das vorgeschlagen. „Wenn ich Banker bei der Bundesbank wäre, dann kann ich auf solche Ideen kommen“, poltert Gabriel los. Das seien doch alles Leute mit hohem Einkommen, geringer körperlicher Belastung, langer Lebenserwartung und sehr hoher Rente. „Ein Facharbeiter, eine Verkäuferin oder eine Krankenschwester hält das für eine bekloppte Idee“, sagt Gabriel. „Ich auch.“

Ein Statement, das kracht. Und eines, das zur Verwandlung des SPD-Chefs in den vergangenen Wochen und Monaten passt. Stück für Stück wird aus dem Wirtschaftsminister Gabriel der Wahlkämpfer Sigi. Der haut auch mal auf den Putz, twittert „Tour anne Ruhr“ und opfert seine Meinung zum Freihandelsabkommen TTIP, um die eigene Partei zu befrieden.

Während Gabriel den Freihandelspakt zwischen den USA und Europa anfangs noch vorantrieb, wirbt er mittlerweile kaum noch dafür. Mit einem raschen Abschluss rechne er nicht mehr, lautet die offizielle Sprachreglung. Damit ist er den Kritikern aus den eigenen Reihen entgegengekommen – und hofft wohl als Gegenleistung bei der Abstimmung über das Freihandelsabkommen mit Kanada, CETA, mehr Rückendeckung zu erhalten.

Doch auch das Thema CETA hat mittlerweile eine Sprengkraft entwickelt, die für Gabriels weitere Pläne ähnlich gefährlich ist wie die Ergebnisse der Landtagswahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Bereits in knapp fünf Wochen wollen die Sozialdemokraten auf einem nicht-öffentlichen Parteikonvent in Wolfsburg über das Freihandelsabkommen mit Kanada abstimmen.

In der Partei gehen einige von einem Showdown zwischen Gabriel und seinen Gegnern aus. Auf der einen Seite: Gabriel und wirtschaftsnahe Politiker wie Johannes Kahrs vom Seeheimer Kreis. Nach der TTIP-Schlappe wollen sie zumindest CETA erfolgreich abschließen. Auf der anderen: traditionell linke Landesverbände wie Bayern oder Bremen und die Jusos. Sie halten dagegen und machen keinen Hehl daraus, dass sie CETA ablehnen.

Es ist der Konflikt, den Sigmar Gabriel in den nächsten Monaten wohl noch oft ausfechten werden muss. Soll er in Regierungsverantwortung handeln, als Wirtschaftsminister? Als Wahlkämpfer, der poltert und auch mal unrealistische Dinge verspricht? Oder als SPD-Chef, der die eigenen Reihen besänftigt und hinter sich vereint?

In Essen steht Gabriel irgendwann vor einem Schaubild zu Innovationsprozessen. „Schacht-One“-Geschäftsführer Dirk Müller hat es aufgehängt, um zu zeigen, wie man Produkte besser entwickelt. Auf der linken Seite ist ein Schweizer Taschenmesser zu sehen wie es Ingenieure entwerfen würden: Nagelschere, Schraubenzieher, Lupe, alle möglichen Werkzeuge der Welt. Aber das Messer ist unendlich dick und kompliziert.

Zwei dicke, rote Striche kreuzen den Entwurf. Daneben ist die Abbildung eines „erfolgreichen Produktes“ aufgedruckt. Wieder ein Taschenmesser. Aber diesmal bloß eine Klinge, ein Dosenöffner, ein Korkenzieher – sonst nichts. Das Messer wirkt schlank und elegant. Gabriel schaut eine Weile. Dann sagt er: „Wenn sie bei mir in den Verein gehen und ein Programm machen wollen, dann kommt sowas wie beim linken Beispiel raus.“

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