Die Flüchtlingskrise konfrontiert die deutsche Gesellschaft mit der Unfähigkeit weiter Teile der politischen Klasse, auf neuartige Probleme und Bedrohungen anders als mit Rezepten einer unwiederbringlichen Vergangenheit zu antworten. In keiner der etablierten Parteien ist diese Anpassungskrise derzeit so deutlich erkennbar wie in der SPD.
In ihrer Geschichte sah die SPD ihre politische Aufgabe – zumindest seit sich die marxistischen Revolutionäre in die KPD verabschiedet hatten – vor allem darin, den Anteil des früher so genannten „kleinen Mannes“ am Bruttosozialprodukt möglichst zu erhöhen. Das Mittel der Wahl war neben der Unterstützung der „expansiven Lohnpolitik“ der Gewerkschaften in erster Linie der Ausbau des Sozialstaates.
Meist tauchte in der politischen Agitation der Sozialdemokraten dabei deren traditioneller Lieblingsbegriff auf: Solidarität. In der heroischen Frühphase der Arbeiterbewegung verband man mit diesem Wort das Bild von untergehakten streikenden Kumpels, die gegen die Knüppel der Werkpolizei zusammenhalten.
Asylsuchende in Deutschland
Die beim Bamf eingegangenen Asylgesuche bilden die einzige gesicherte Zahl. Im Gesamtjahr 2015 waren das 476.649 und damit rund 273.800 oder 135 Prozent mehr als 2014. Die bisherige Rekordzahl liegt 23 Jahre zurück: Unter anderem als Folge der Balkan-Kriege gab es 1992 438.200 Asylanträge.
Hauptherkunftsländer der Antragsteller waren 2015 Syrien (162.510), Albanien (54.762), Kosovo (37.095), Afghanistan (31.902) und Irak (31.379). Nimmt man noch Serbien (26.945) und Mazedonien (14.131) hinzu, kamen rund 133.000 Asylanträge aus vier der sechs Westbalkan-Länder, die 2014 und 2015 zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden.
Eingereist sind 2015 weitaus mehr Flüchtlinge und Asylbewerber. Das zeigt die Datenbasis zur Erstverteilung von Asylsuchenden (Easy), in der Schutzsuchende registriert werden, um nach einem festgelegten Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilt zu werden. Dort wurden laut Innenministerium 2015 rund 1,092 Millionen Zugänge registriert. Darunter waren rund 428.500 Syrer (rund 40 Prozent). Während die Neuzugänge bis November jeden Monat deutlich stiegen, gingen sie im Dezember zurück auf 127.300 nach 206.100 im Vormonat.
Die Easy-Zahl übersteigt die Asylanträge, weil viele Asylsuchende schon vor dem Asylantrag von den Ländern an die Kommunen weitergeleitet werden, da die Kapazitäten der Erstaufnahmeeinrichtungen erschöpft sind. Der formale Asylantrag kann sich daher um Wochen verzögern. Eine unbekannte Zahl der bei Easy Registrierten nutzt Deutschland auch nur als Durchgangsstation etwa auf der Reise nach Skandinavien.
Das Bundesamt für Migration entscheidet zwar über mehr Anträge als im vorigen Jahr. Doch mit dem raschen Zustrom der Flüchtlinge hält es nicht Schritt. Laut Bilanz für 2015 wurden 282.726 Entscheidungen getroffen, mehr als doppelt so viele wie 2014. Davon erhielten 48,5 Prozent den Flüchtlingsstatus laut Genfer Konvention zuerkannt und dürfen damit in Deutschland bleiben. Davon wiederum wurden 2029 (0,7 Prozent aller Entscheidungen) als Asylberechtigte nach Artikel 16a des Grundgesetzes anerkannt. Von den entschiedenen syrischen Anträgen wurden 95,8 Prozent als Flüchtlinge anerkannt. Für Albaner, Kosovaren und Serben lag die Quote bei null Prozent.
Die Zahl der noch nicht entschiedenen Anträge stieg bis Ende 2015 auf 364.664. Hinzu kommt eine nicht bezifferbare Zahl von Flüchtlingen, die bereits registriert sind, deren Asylantrag aber noch nicht erfasst wurde. Der Antragsrückstau ist eines der größten Probleme. Das Bamf hat daher für 2016 4000 weitere Stellen bewilligt bekommen, wodurch die Mitarbeiterzahl auf etwa 7300 steigt. Bamf-Chef Frank-Jürgen Weise, der auch Chef der Bundesagentur für Arbeit ist, zeigte sich am Dienstag zuversichtlich, dass die 4000 neuen Beschäftigten „im besten Fall bis Mitte des Jahres qualifiziert im Einsatz“ seien.
Als ersten Erfolg werten das Bamf und das Innenministerium, dass sich die Verfahrensdauer für Syrer verkürzt hat. Sie stieg nach Angaben des Innenministeriums von 3,5 Monaten (Januar 2015) zunächst auf 4,3 Monate (Juni), sank bis Dezember aber auf 2,5 Monate. Für Antragssteller, die seit Jahresbeginn 2016 eingereist sind, könnte es wieder länger dauern: Für sie gilt wieder die Einzelfallprüfung mit persönlicher Anhörung durch den sogenannten Entscheider.
Diese konkrete Solidarität, die die Arbeiter unter Führung der Partei miteinander verband, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts abgelöst von der unpersönlichen Solidarität des Staates, der immer neue und immer wachsende finanzielle Sicherheiten bereitstellte.
Zurück zur Politik der frühen SPD
Gerhard Schröders Agenda-Politik, die den Sozialstaat in seine Grenzen wies, war in dieser Hinsicht bekanntlich ein historischer Bruch für die SPD, der letztlich zur dauerhaften Etablierung der heutigen Partei „Die Linke“ verhalf. Diesen Bruch will die neue Riege der Sozialdemokraten möglichst vergessen machen.
Mit Andrea Nahles und Manuela Schwesig regieren nun wieder Sozialdemokraten, die die Aufgabe der Politik darin sehen, sich um vermeintlich hilfsbedürftige Menschen zu kümmern. Die Pressemitteilungen aus ihren Ministerien sind eine einzige Abfolge von Projekten „gegen Armut und Ausgrenzung“. Die vermehrte Einwanderung der jüngsten Zeit scheint dort ein willkommener Anlass zu sein, sich neuer Objekte der Bekümmerung anzunehmen.
Nun will SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel dafür sorgen, dass die bisherigen Kümmerobjekte sich ob all der Hilfe für die Neulinge nicht vernachlässigt fühlen. Sein „Solidaritätsprojekt“ soll ganz offensichtlich vor allem althergebrachte SPD-Wähler beeindrucken: Rentner, junge Eltern mit bescheidenem Einkommen, die mit den neu angekommenen Einwanderern um Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor und günstigen Wohnraum konkurrieren.
Die Freigiebigkeit wird Folgen haben
Es ist eine verantwortungslose Reaktion, und auch eine der Schwäche: Statt den Andrang neuer Versorgungsfälle vernünftigerweise als Anlass zum Sparen zu nehmen und Wasser in die Suppe zu gießen, verspricht man den Einheimischen einen kräftigen Nachschlag aus dem Topf, der dadurch natürlich nicht größer wird. Kann irgendein Sozialpolitiker tatsächlich annehmen, dass eine derart leichtsinnige Ausgabenpolitik die Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenhalts erhöht? Das täte sie bestenfalls sehr kurzfristig. Und um den Preis einer umso früheren und umso größeren Krise, wenn die Suppe ausgeschöpft ist.
Vielleicht noch zerstörerischer als die fiskalischen Folgen einer neu stimulierten Verteilungswelle öffentlicher Wohltaten wäre aber der sozialpsychologische Effekt, gerade mit Blick auf die neu Angekommenen. Sie müssten den Eindruck bekommen, dass dies ein Land ist, in das man nicht nur ungehindert einwandern kann, sondern in dem der Staat aus dem Vollen schöpfen kann, sobald die geringste Unzufriedenheit unter seinen Bürgern bekannt wird.
Es gibt einen Weltmarkt, aber kein Weltsozialsystem
Wollen wir, dass die Eingewanderten zu Objekten von Programmen der Ministerialapparate und Sozialbehörden „gegen Armut und Ausgrenzung“ werden? Wollen wir, dass ihr erster Eindruck von Deutschland der ist, dass man hier von staatlichen Nannys an die Hand genommen wird, die dafür sorgen, dass man keinen Schritt ohne die Hilfe eines verbeamteten Vormunds tun muss?
Das Ergebnis einer solchen Politik dürfte das Gegenteil geglückter Integration sein.
Für eine akute Nothilfe ist man dankbar. Aber dauerhaft von fremder Hilfe abhängige Menschen sind in der Regel nicht besonders dankbar, sondern eher frustriert bis wütend. Dies ist in allen Sozialstaaten zu beobachten. Es wird jedoch von den meisten Sozialpolitikern standhaft ignoriert. Vielleicht, weil Helfen ein Gefühl der Überlegenheit über den Hilfsbedürftigen erzeugt.
Flüchtlinge: Das ist der Integrationskatalog der CDU
Für Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge sollen Praktika mit Abweichungen vom Mindestlohn auf mindestens sechs Monate verlängert werden, um einen Berufseinstieg zu erleichtern. Schon heute sind Abstriche von den 8,50 Euro Mindestlohn pro Stunde bei betrieblichen Einstiegsqualifizierungen von bis zu zwölf Monaten möglich. Die CDU-Spitze verzichtete nach Protest der SPD und des Arbeitnehmerflügels der Union darauf, anerkannte Flüchtlinge mit Langzeitarbeitslosen gleichzustellen. Auch dann wäre eine Abweichung vom Mindestlohn von bis zu sechs Monaten möglich gewesen.
Quelle: CDU-Bundesvorstand / Reuters, Stand: 15.02.2016
Eine Anstellung in der Leiharbeitsbranche soll nach drei statt derzeit erst 15 Monaten möglich sein. Bei gemeinnützigen Organisationen soll stärker dafür geworben werden, Flüchtlinge in den von den Jobcentern geförderten Ein-Euro-Jobs zu beschäftigen.
Asylberechtigte, anerkannte Flüchtlinge und sogenannte subsidiär Schutzberechtigte sollen ein unbefristetes Aufenthaltsrecht nur erhalten, wenn sie über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung nachweisen, keine Straftaten begangen haben und ihren Lebensunterhalt sichern können. Auch der Familiennachzug soll von der erfolgreichen Teilnahme an Integrationskursen abhängig gemacht werden.
Die Hürde für eine frühe Teilnahme an Integrationskursen oder Förderprogrammen der Arbeitsagenturen noch vor Abschluss des Asylverfahrens soll höhergelegt werden. Laut dem im Oktober beschlossenen Asylpaket I reicht dafür bisher eine "gute Bleibeperspektive" aus. Diese wird bei Asylsuchenden aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von über 50 Prozent angenommen. Laut CDU-Papier soll "künftig eine 'sehr gute Bleibeperspektive' entscheidend sein, weil wir insbesondere Syrern und Irakern helfen wollen".
Die CDU strebt Gesetze von Bund und Ländern an, in denen verbindliche Integrationsvereinbarungen festgelegt werden sollen. In den Aufnahmeeinrichtungen sollen ein Basissprachkurs und ein Kurs zu Grundregeln des Zusammenlebens Pflicht sein und mit einem Abschlusstest versehen werden.
Asylberechtigten, anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten soll ihr Wohnsitz zugewiesen werden, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft sichern können. Ausnahmen sollen möglich sein, wenn die Betroffenen am Wohnort ihrer Wahl einen Arbeitsplatz und eine eigene Wohnung nachweisen können.
Die CDU will prüfen lassen, ob die Schulpflicht für Flüchtlinge ohne Schulabschluss über das bisher geltende Alter von 18 Jahren hinausgehen soll. Im Entwurf stand noch eine angestrebte Altersgrenze von 25 Jahren.
Erfolgreiche Einwanderungsländer helfen weniger
Erfolgreiche englischsprachige Einwanderungsländer haben in der Regel sehr viel schwächer ausgebaute Sozialsysteme und sehr viel höhere Grenzzäune als die Vollkasko-Einwanderungsländer in Mitteleuropa. Sie helfen nicht allen, die kommen, sondern wählen sich diejenigen aus, die nicht viel Hilfe beanspruchen. Das Ergebnis sind dann im Idealfall Einwanderer als freie, selbstverantwortliche Bürger und nicht als fordernde Bittsteller.
Die kontinentaleuropäische Sozialdemokratie hat damit offensichtlich ein Problem. Das kann man historisch nachvollziehen. Ihr Werk, also die klassische kontinentaleuropäische Sozialpolitik, entstand auf der Basis starker, ethnisch weitgehend homogener Nichteinwanderungsstaaten. Die Solidargemeinschaft war auf den Nationalstaat zugeschnitten. Eine europäische Alternative dazu ist bis heute nicht in Sicht.
Die von Sozialdemokraten und radikaleren Linken hochgehaltene Parole der Internationalität blieb, sofern es um konkrete Sozialpolitik geht, letztlich Folklore. Gelebte Solidarität war nie, wie Che Guevara fantasierte, „die Zärtlichkeit der Völker“. Die tatsächliche Internationalisierung und Globalisierung ging von der Wirtschaft aus. Es gibt einen Weltmarkt, aber kein Weltsozialsystem.
Dennoch: Das internationalistische Ideal offener Grenzen nicht nur für Güter und Touristen, sondern auch für Einwanderungswillige hat sich in der Sozialdemokratie – und nicht nur dort – als moralischer Imperativ durchgesetzt. Sozialdemokratische Politik steht damit, wie Gabriels Vorstoß besonders deutlich zeigt, vor einem vermutlich unauflösbaren Widerspruch: zwischen der Sozialstaatspolitik, die sie für ihre verbliebenen einheimischen Wähler machen muss, und dem Ideal der offenen Grenzen, das in ihrem Funktionärsmilieu gesinnungsethisch fest verankert ist.
Die Unvereinbarkeit der beiden Ziele betrifft natürlich alle etablierten Parteien, insofern sie seit Jahrzehnten sozialdemokratisiert sind. Doch die SPD eben ganz besonders, da sowohl Solidarität als auch Internationalität ihre historischen Markenkerne sind.
Allen mehr oder weniger sozialdemokratisierten Parteien steht das für sie ausgesprochen unbequeme Eingeständnis bevor: Ein Sozialstaat ist in einer Welt des eklatanten Wohlstandsgefälles nur im Schutzraum eines restriktiven Einwanderungsregimes möglich, das die Zusammensetzung der Solidargemeinschaft effektiv kontrolliert.
Sich für den Erhalt eines angemessenen Systems der sozialen Sicherung bei Akzeptanz der Realitäten der Einwanderung und Verzicht auf althergebrachte Ideologie stark zu machen, wäre ein lohnendes Ziel für verantwortungsbewusste Sozialdemokraten. Diejenigen, die derzeit in der Bundesregierung sitzen, scheinen die Demonstration reiner Gesinnungsethik vorzuziehen.