Sigmar Gabriels Solidaritätsprojekt Das Dilemma der SPD

Sigmar Gabriel und Wolfgang Schäuble zoffen sich über soziale Investitionen. Die SPD ignoriert dabei eine unbequeme Wahrheit: Ein expandierender Sozialstaat und offene Grenzen passen auf Dauer nicht zusammen.

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Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) spricht beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft mit zwei kleinen Mädchen. Quelle: dpa

Die Flüchtlingskrise konfrontiert die deutsche Gesellschaft mit der Unfähigkeit weiter Teile der politischen Klasse, auf neuartige Probleme und Bedrohungen anders als mit Rezepten einer unwiederbringlichen Vergangenheit zu antworten. In keiner der etablierten Parteien ist diese Anpassungskrise derzeit so deutlich erkennbar wie in der SPD.

In ihrer Geschichte sah die SPD ihre politische Aufgabe – zumindest seit sich die marxistischen Revolutionäre in die KPD verabschiedet hatten – vor allem darin, den Anteil des früher so genannten „kleinen Mannes“ am Bruttosozialprodukt möglichst zu erhöhen. Das Mittel der Wahl war neben der Unterstützung der „expansiven Lohnpolitik“ der Gewerkschaften in erster Linie der Ausbau des Sozialstaates.

Meist tauchte in der politischen Agitation der Sozialdemokraten dabei deren traditioneller Lieblingsbegriff auf: Solidarität. In der heroischen Frühphase der Arbeiterbewegung verband man mit diesem Wort das Bild von untergehakten streikenden Kumpels, die gegen die Knüppel der Werkpolizei zusammenhalten. 

Asylsuchende in Deutschland

Diese konkrete Solidarität, die die Arbeiter unter Führung der Partei miteinander verband, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts abgelöst von der unpersönlichen Solidarität des Staates, der immer neue und immer wachsende finanzielle Sicherheiten bereitstellte.

Zurück zur Politik der frühen SPD

Gerhard Schröders Agenda-Politik, die den Sozialstaat in seine Grenzen wies, war in dieser Hinsicht bekanntlich ein historischer Bruch für die SPD, der letztlich zur dauerhaften Etablierung der heutigen Partei „Die Linke“ verhalf. Diesen Bruch will die neue Riege der Sozialdemokraten möglichst vergessen machen.

Mit Andrea Nahles und Manuela Schwesig regieren nun wieder Sozialdemokraten, die die Aufgabe der Politik darin sehen, sich um vermeintlich hilfsbedürftige Menschen zu kümmern. Die Pressemitteilungen aus ihren Ministerien sind eine einzige Abfolge von Projekten „gegen Armut und Ausgrenzung“. Die vermehrte Einwanderung der jüngsten Zeit scheint dort ein willkommener Anlass zu sein, sich neuer Objekte der Bekümmerung anzunehmen.

Nun will SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel dafür sorgen, dass die bisherigen Kümmerobjekte sich ob all der Hilfe für die Neulinge nicht vernachlässigt fühlen. Sein „Solidaritätsprojekt“ soll ganz offensichtlich vor allem althergebrachte SPD-Wähler beeindrucken: Rentner, junge Eltern mit bescheidenem Einkommen, die mit den neu angekommenen Einwanderern um Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor und günstigen Wohnraum konkurrieren.

Die Freigiebigkeit wird Folgen haben

Es ist eine verantwortungslose Reaktion, und auch eine der Schwäche: Statt den Andrang neuer Versorgungsfälle vernünftigerweise als Anlass zum Sparen zu nehmen und Wasser in die Suppe zu gießen, verspricht man den Einheimischen einen kräftigen Nachschlag aus dem Topf, der dadurch natürlich nicht größer wird. Kann irgendein Sozialpolitiker tatsächlich annehmen, dass eine derart leichtsinnige Ausgabenpolitik die Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenhalts erhöht? Das täte sie bestenfalls sehr kurzfristig. Und um den Preis einer umso früheren und umso größeren Krise, wenn die Suppe ausgeschöpft ist.

Vielleicht noch zerstörerischer als die fiskalischen Folgen einer neu stimulierten Verteilungswelle öffentlicher Wohltaten wäre aber der sozialpsychologische Effekt, gerade mit Blick auf die neu Angekommenen. Sie müssten den Eindruck bekommen, dass dies ein Land ist, in das man nicht nur ungehindert einwandern kann, sondern in dem der Staat aus dem Vollen schöpfen kann, sobald die geringste Unzufriedenheit unter seinen Bürgern bekannt wird.

Es gibt einen Weltmarkt, aber kein Weltsozialsystem

Wollen wir, dass die Eingewanderten zu Objekten von Programmen der Ministerialapparate und Sozialbehörden „gegen Armut und Ausgrenzung“ werden? Wollen wir, dass ihr erster Eindruck von Deutschland der ist, dass man hier von staatlichen Nannys an die Hand genommen wird, die dafür sorgen, dass man keinen Schritt ohne die Hilfe eines verbeamteten Vormunds tun muss?

Das Ergebnis einer solchen Politik dürfte das Gegenteil geglückter Integration sein.

Für eine akute Nothilfe ist man dankbar. Aber dauerhaft von fremder Hilfe abhängige Menschen sind in der Regel nicht besonders dankbar, sondern eher frustriert bis wütend. Dies ist in allen Sozialstaaten zu beobachten. Es wird jedoch von den meisten Sozialpolitikern standhaft ignoriert. Vielleicht, weil Helfen ein Gefühl der Überlegenheit über den Hilfsbedürftigen erzeugt.

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Erfolgreiche Einwanderungsländer helfen weniger

Erfolgreiche englischsprachige Einwanderungsländer haben in der Regel sehr viel schwächer ausgebaute Sozialsysteme und sehr viel höhere Grenzzäune als die Vollkasko-Einwanderungsländer in Mitteleuropa. Sie helfen nicht allen, die kommen, sondern wählen sich diejenigen aus, die nicht viel Hilfe beanspruchen. Das Ergebnis sind dann im Idealfall Einwanderer als freie, selbstverantwortliche Bürger und nicht als fordernde Bittsteller.

Die kontinentaleuropäische Sozialdemokratie hat damit offensichtlich ein Problem. Das kann man historisch nachvollziehen. Ihr Werk, also die klassische kontinentaleuropäische Sozialpolitik, entstand auf der Basis starker, ethnisch weitgehend homogener Nichteinwanderungsstaaten. Die Solidargemeinschaft war auf den Nationalstaat zugeschnitten. Eine europäische Alternative dazu ist bis heute nicht in Sicht.

Vor diesen Problemen stehen die Zuwanderer
Teilnehmer eines Kurses "Deutsch als Fremdsprache" Quelle: dpa
Eine Asylbewerberin wartet in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung in Berlin Quelle: dpa
Eine Frau sitzt in einem Flüchtlingsheim in einem Zimmer Quelle: dpa
Ein Flüchtling sitzt vor einer Gemeinschaftsunterkunft der Asylbewerber Quelle: dpa
Verschiedene Lebensmittel liegen in der Asylunterkunft in Böbrach (Bayern) in Körben Quelle: dpa

Die von Sozialdemokraten und radikaleren Linken hochgehaltene Parole der Internationalität blieb, sofern es um konkrete Sozialpolitik geht, letztlich Folklore. Gelebte Solidarität war nie, wie Che Guevara fantasierte, „die Zärtlichkeit der Völker“. Die tatsächliche Internationalisierung und Globalisierung ging von der Wirtschaft aus. Es gibt einen Weltmarkt, aber kein Weltsozialsystem.

Dennoch: Das internationalistische Ideal offener Grenzen nicht nur für Güter und Touristen, sondern auch für Einwanderungswillige hat sich in der Sozialdemokratie – und nicht nur dort – als moralischer Imperativ durchgesetzt. Sozialdemokratische Politik steht damit, wie Gabriels Vorstoß besonders deutlich zeigt, vor einem vermutlich unauflösbaren Widerspruch: zwischen der Sozialstaatspolitik, die sie für ihre verbliebenen einheimischen Wähler machen muss, und dem Ideal der offenen Grenzen, das in ihrem Funktionärsmilieu gesinnungsethisch fest verankert ist.

Die Unvereinbarkeit der beiden Ziele betrifft natürlich alle etablierten Parteien, insofern sie seit Jahrzehnten sozialdemokratisiert sind. Doch die SPD eben ganz besonders, da sowohl Solidarität als auch Internationalität ihre historischen Markenkerne sind.

Allen mehr oder weniger sozialdemokratisierten Parteien steht das für sie ausgesprochen unbequeme Eingeständnis bevor: Ein Sozialstaat ist in einer Welt des eklatanten Wohlstandsgefälles nur im Schutzraum eines restriktiven Einwanderungsregimes möglich, das die Zusammensetzung der Solidargemeinschaft effektiv kontrolliert.

Sich für den Erhalt eines angemessenen Systems der sozialen Sicherung bei Akzeptanz der Realitäten der Einwanderung und Verzicht auf althergebrachte Ideologie stark zu machen, wäre ein lohnendes Ziel für verantwortungsbewusste Sozialdemokraten. Diejenigen, die derzeit in der Bundesregierung sitzen, scheinen die Demonstration reiner Gesinnungsethik vorzuziehen.

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