Sigmar Gabriels Solidaritätsprojekt Das Dilemma der SPD

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Es gibt einen Weltmarkt, aber kein Weltsozialsystem

Wollen wir, dass die Eingewanderten zu Objekten von Programmen der Ministerialapparate und Sozialbehörden „gegen Armut und Ausgrenzung“ werden? Wollen wir, dass ihr erster Eindruck von Deutschland der ist, dass man hier von staatlichen Nannys an die Hand genommen wird, die dafür sorgen, dass man keinen Schritt ohne die Hilfe eines verbeamteten Vormunds tun muss?

Das Ergebnis einer solchen Politik dürfte das Gegenteil geglückter Integration sein.

Für eine akute Nothilfe ist man dankbar. Aber dauerhaft von fremder Hilfe abhängige Menschen sind in der Regel nicht besonders dankbar, sondern eher frustriert bis wütend. Dies ist in allen Sozialstaaten zu beobachten. Es wird jedoch von den meisten Sozialpolitikern standhaft ignoriert. Vielleicht, weil Helfen ein Gefühl der Überlegenheit über den Hilfsbedürftigen erzeugt.

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Erfolgreiche Einwanderungsländer helfen weniger

Erfolgreiche englischsprachige Einwanderungsländer haben in der Regel sehr viel schwächer ausgebaute Sozialsysteme und sehr viel höhere Grenzzäune als die Vollkasko-Einwanderungsländer in Mitteleuropa. Sie helfen nicht allen, die kommen, sondern wählen sich diejenigen aus, die nicht viel Hilfe beanspruchen. Das Ergebnis sind dann im Idealfall Einwanderer als freie, selbstverantwortliche Bürger und nicht als fordernde Bittsteller.

Die kontinentaleuropäische Sozialdemokratie hat damit offensichtlich ein Problem. Das kann man historisch nachvollziehen. Ihr Werk, also die klassische kontinentaleuropäische Sozialpolitik, entstand auf der Basis starker, ethnisch weitgehend homogener Nichteinwanderungsstaaten. Die Solidargemeinschaft war auf den Nationalstaat zugeschnitten. Eine europäische Alternative dazu ist bis heute nicht in Sicht.

Vor diesen Problemen stehen die Zuwanderer
Teilnehmer eines Kurses "Deutsch als Fremdsprache" Quelle: dpa
Eine Asylbewerberin wartet in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung in Berlin Quelle: dpa
Eine Frau sitzt in einem Flüchtlingsheim in einem Zimmer Quelle: dpa
Ein Flüchtling sitzt vor einer Gemeinschaftsunterkunft der Asylbewerber Quelle: dpa
Verschiedene Lebensmittel liegen in der Asylunterkunft in Böbrach (Bayern) in Körben Quelle: dpa

Die von Sozialdemokraten und radikaleren Linken hochgehaltene Parole der Internationalität blieb, sofern es um konkrete Sozialpolitik geht, letztlich Folklore. Gelebte Solidarität war nie, wie Che Guevara fantasierte, „die Zärtlichkeit der Völker“. Die tatsächliche Internationalisierung und Globalisierung ging von der Wirtschaft aus. Es gibt einen Weltmarkt, aber kein Weltsozialsystem.

Dennoch: Das internationalistische Ideal offener Grenzen nicht nur für Güter und Touristen, sondern auch für Einwanderungswillige hat sich in der Sozialdemokratie – und nicht nur dort – als moralischer Imperativ durchgesetzt. Sozialdemokratische Politik steht damit, wie Gabriels Vorstoß besonders deutlich zeigt, vor einem vermutlich unauflösbaren Widerspruch: zwischen der Sozialstaatspolitik, die sie für ihre verbliebenen einheimischen Wähler machen muss, und dem Ideal der offenen Grenzen, das in ihrem Funktionärsmilieu gesinnungsethisch fest verankert ist.

Die Unvereinbarkeit der beiden Ziele betrifft natürlich alle etablierten Parteien, insofern sie seit Jahrzehnten sozialdemokratisiert sind. Doch die SPD eben ganz besonders, da sowohl Solidarität als auch Internationalität ihre historischen Markenkerne sind.

Allen mehr oder weniger sozialdemokratisierten Parteien steht das für sie ausgesprochen unbequeme Eingeständnis bevor: Ein Sozialstaat ist in einer Welt des eklatanten Wohlstandsgefälles nur im Schutzraum eines restriktiven Einwanderungsregimes möglich, das die Zusammensetzung der Solidargemeinschaft effektiv kontrolliert.

Sich für den Erhalt eines angemessenen Systems der sozialen Sicherung bei Akzeptanz der Realitäten der Einwanderung und Verzicht auf althergebrachte Ideologie stark zu machen, wäre ein lohnendes Ziel für verantwortungsbewusste Sozialdemokraten. Diejenigen, die derzeit in der Bundesregierung sitzen, scheinen die Demonstration reiner Gesinnungsethik vorzuziehen.

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