Sondierungsergebnis von Union und SPD Ökonomen vermissen mutige Reformen

Pluspunkte für die Europapolitik, Kritik an den Rentenplänen und Enttäuschung über die Steuerpolitik: Den deutschen Spitzenökonomen fehlen Visionen und Reformen in den Plänen von Union und SPD.

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Deutschlands Ökonomen hatten sich mehr von dem Regierungsplan von SPD und Union erhofft. Quelle: dpa

Berlin Von deutschen Ökonomen ernten die Parteichefs Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Martin Schulz (SPD) wenig Applaus für das Ergebnis ihrer Sondierungen. Zu viele Details, zu wenig Richtung und Orientierung, bemängeln vom Handelsblatt befragte Ökonomen einmütig. „Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche deuten auf viele Kompromisse und wenige richtungsweisende Reformen hin“; sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher. „Es fehlen eine klare Vision und mutige Reformen, die Deutschland zukunftsfähig machen könnten.“

Christoph Schmidt, Vorsitzender des Wirtschafts-Sachverständigenrats, betonte allerdings, das wichtigste für den Wirtschaftsstandort Deutschlands sei ein Konsens: „Es ist zu begrüßen, dass die Sondierungsgespräche zu einem positiven Abschluss gelangt sind.“ Denn eine Regierungsbildung erscheint damit jetzt möglich. „Allerdings bleiben die bekannt gewordenen Ergebnisse in ihren fiskalpolitischen Zielsetzungen deutlich hinter den Möglichkeiten zurück“, sagte der Chef der Wirtschaftsweisen dem Handelsblatt.

Am ehesten Lob bekommen Union und SPD für ihre Europapläne. „Das Investitionsbudget kommt Macron entgegen“, stellt Ifo-Präsident Clemens Fuest fest. „Das Bekenntnis zu Europa ist erfreulich“, sagt Fratzscher. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hält diesen Teil ebenfalls für den am besten gelungenen. „Alle Punkte Macrons werden aufgegriffen. Es ist richtig, dass Union und SPD Mittel für Innovationsoffensiven der EU bereitstellen sollen. Sinnvoll ist es auch, den Rettungsfonds ESM auszubauen und im Unionsrecht zu verankern, um wegzukommen von den intergouvernementalen Vereinbarungen der Regierungen“, sagte er.

Allerdings: Auch hier bemängeln die Ökonomen schwammige Formulierungen. „Den Ergebnissen fehlt eine Vision, wie Europa reformiert werden soll und Deutschland mehr Verantwortung für Europa übernehmen kann“, sagte Fratzscher. Fuest sieht eine eklatante Lücke: „Es fehlen Angaben darüber, wie der ESM in EU-Recht überführt werden kann. Und die tatsächlichen Probleme der Eurozone – Bankenunion, Restrukturierung öffentlicher Schulden – werden nicht angegangen“, bemängelt er.

Die Innenpolitik beurteilen die Ökonomen in den Details unterschiedlich. „Dieses Regierungsprogramm bringt eine dauerhafte Ausdehnung des Staatsanteils an der Wirtschaftsleistung, also höhere Steuern und mehr öffentliche Leistungen“, kritisiert der eher Unions-nahe Ifo-Präsident Fuest das Programm. Er hätte sich mehr Entlastung der Bürger gewünscht. „Einkommensteuersenkungen finden praktisch nicht statt. Es gibt keine Änderungen beim Einkommensteuertarif“, sagte er. Auch Schmidt sieht die Steuerpläne kritisch: „Zwar ist gut, dass offenbar auf eine Anhebung der Spitzensteuersätze verzichtet werden soll. Die geplante Entlastung der Bürger in Höhe von zehn Milliarden Euro über die gesamte Wahlperiode greift aber erheblich zu kurz“, sagte er.

Beim gewerkschaftsnahen Wirtschaftsweisen Bofinger stößt das Mehr an Umverteilung dagegen auf Zustimmung. „Überfällig ist bei der Krankenversicherung die Rückkehr zu paritätischen Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Denn die im Jahr 2005 noch von Gerhard Schröder beschlossene Abkehr von der Parität war letztlich nichts anderes als eine staatlich dekretierte Lohnsenkung“, sagte er.

Die bessere Förderung von Familien mit Kindern, mehr Investitionen in Schulen und die Förderung von Langzeitarbeitslosen hält Bofinger ebenfalls für sinnvoll. „Grundsätzlich geht das Koalitionsprogramm in die richtige Richtung, ein großer Wurf ist es aber nicht“, sagte er. Auch der eher SPD-nahe Ökonom Fratzscher bewertet den Plan positiv, das Kooperationsverbot in der Bildung abzuschaffen, „damit auch der Bund mehr Verantwortung für die Qualität der Bildung übernehmen kann“, sagte er.

In der Finanzpolitik liege der Schwerpunkt des Programms in Ausgabensteigerungen, vor allem dem Ausbau von Sozialleistungen, so Fuest. In den vier Jahren würden die zu erwartenden Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag von 80 Milliarden Euro gerade einmal um zehn Milliarden Euro gesenkt. Dem stünden 36 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben gegenüber, rechnete er gegenüber dem Handelsblatt vor.


Ökonomen sehen Soli-Plan skeptisch

Die konkreten Pläne, die Bürger durch den Abbau des Solidaritätszuschlags zu entlasten, beurteilen die Ökonomen allerdings einhellig skeptisch. „Durch die geplante Freigrenze beim Soli werden Bezieher höherer Einkommen von jeglicher Steuerentlastung ausgeschlossen“, sagte Fuest. Dabei habe die CDU im Wahlprogramm doch Entlastungen für alle Steuerzahler vorgesehen.

Bofinger bezeichnete den Soli-Senkungsplan als „grobschlächtig“: „Den Soli mit einer Freigrenze zu reduzieren, führt dazu, dass es für Bezieher höherer Einkommen ab der Grenze zu einem massiven Sprung in ihrer Steuerbelastung kommt. Besser wäre eine Integration des Soli in die Einkommensteuer gewesen, um dann den Tarif so zu senken, dass auch der Mittelstandsbauch schmilzt“, sagte er.

Die geplante Abschaffung der Abgeltungsteuer auf Zinsen begrüßte Bofinger allerdings ausdrücklich. „Das ist steuersystematisch richtig. In einem Niedrigzinsumfeld wäre es aber sinnvoll, dies mit einem höheren Freibetrag auf Kapitalerträge für Sparer zu verbinden“, sagte er. Schmidt sieht die angestrebte Abschaffung der Abgeltungsteuer dagegen kritisch. „Dies wird Deutschland als Investitionsstandort weniger attraktiv machen“, befürchtet er.

Wenig können alle drei Ökonomen den Rentenplänen abgewinnen: Es sei völlig unklar, wie die Ausweitung der Leistungen finanziert werden sollen, bemängeln sie. „Die Rentenversprechen gehen zu Lasten der jungen Generation“, sagte Fratzscher. Bofinger sieht durch die geplante Lebensleistungsrente oberhalb der Grundsicherung das Grundprinzip der Rentenversicherung durchlöchert, dass wer mehr eingezahlt hat auch eine höhere Rente bekommt. Und: „Der Verzicht auf eine Versicherungspflicht für Selbstständige in der Gesetzlichen Rentenversicherung gefährdet längerfristig die Stabilität des Rentensystems“, befürchtet er.

Die Beschlüsse zur Migrationspolitik immerhin stoßen auf Akzeptanz. „Der Plan, ein Migrationsgesetzbuch zu schaffen, ist wichtig. Er bietet die Chance, eine rationale und konsistente Migrationspolitik zu schaffen“, sagte Fuest.

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