Sozialdebatte Die falsche Armut

Jedes Jahr erhitzt die Armutsquote die Gemüter. Nun ist angeblich wieder ein Rekord erreicht. Dabei führt die Konzentration auf nur eine Zahl vollkommen in die Irre.

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Armut Quelle: dpa

Wenn eine sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin den Paritätischen Wohlfahrtsverband kritisiert, dann wird es interessant. Genau das ist gerade passiert. Der Verband hat seinen alljährlichen Armutsbericht veröffentlicht. Dessen Bilanz in einem Satz: „In 2015 ist nicht nur die Wirtschaftskraft Deutschlands, sein Reichtum, sondern auch seine Armut gestiegen.“ Die so genannte Armutsquote erreichte 15,7 Prozent. Anders gesagt: Fast jeder sechste Haushalt in der Bundesrepublik gilt mittlerweile als arm, ein Höchststand, ein trauriger Rekord.

Buchstäblich ein Armutszeugnis also - könnte man meinen. Doch selbst Andrea Nahles, neoliberaler Kälte alles andere als verdächtig, mochte sich dem Urteil in dieser Pauschalität so gar nicht anschließen. „Die Fokussierung auf die Armutsrisikoquote ist verkürzt“, ließ sie ihr Ministerium als Reaktion verkünden. Natürlich, Nahles will sich einerseits ihre eigene Regierungsbilanz aus Mindestlohn und Rentenpaketen nicht kaputt reden lassen. Andererseits: Bemerkenswert ist der Einspruch schon in Zeiten, in denen der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz mit dem Slogan der sozialen Gerechtigkeit durchs Land zieht und den Eindruck erwecken will, diesem Land sei in den vergangenen Jahren (zu) viel Schlechtes widerfahren.

Aber Nahles hat trotzdem Recht. Das Kernproblem der Armutsquote - Zyniker würden wohl sagen: ihr für Armutslobbyisten größter Reiz - ist, dass Armut per Definition nie verschwinden kann, da sie sich auf das mittlere Netto-Einkommen eines Haushalts (Median) bezieht. Wenn dieser Median über Nacht kräftig stiege, würde einfach auch der Schwellenwert der Armut mitklettern. Kurzum: Egal, wie reich eine Gesellschaft wäre, dank der Quote gäbe es in ihr immer arme Menschen.

Natürlich kann niemand ernsthaft bestreiten, dass es Armut auch in der Bundesrepublik gibt. Man braucht dafür nur die Obdachlosenunterkünfte zu besuchen oder die Tafeln, die überall im Land Essen an Bedürftige verteilen. Aber so einfach wie der Paritätische Wohlfahrtsverband darf man es sich eben nicht machen.

Nur zwei Beispiele: So liegt die Armutsschwelle für einen Single derzeit bei 942 Euro netto im Monat. Wer weniger hat, gilt demnach als bedürftig. Die meisten Studenten aber dürften in der Tat weniger Einkommen haben –  sie werden sich dennoch in den seltensten Fällen als abgehängt und chancenlos empfinden.

Eine vierköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern wiederum gilt dann als arm, wenn ihr im Monat netto weniger als 1978 Euro zur Verfügung stehen. Viel Geld ist das wahrlich nicht – aber es macht schon einen großen Unterschied, ob die 2000 Euro in München zum Leben reichen müssen oder in der Uckermark. Ob beide Eltern mit zwei Jobs jeweils gerade einen Tausender verdienen oder ein Elternteil alleine für die Familie aufkommt. Ob es im Hintergrund Vermögen oder Eigentum gibt oder nicht – all das wird nicht berücksichtigt.

Mit der alljährlichen Klage auf die Armutsquote tun sich die Verfechter einer unsozialen Republik deshalb keinen Gefallen. Es ist nur eine Zahl – und noch lange nicht die Wahrheit.

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