Sozialleistungen für EU-Ausländer So streng ist Nahles' Hartz-IV-Reform wirklich

Die Arbeitsministern will Sozialleistungen für EU-Ausländer kürzen. Erst wer hier fünf Jahre gelebt hat, soll Ansprüche haben. Schlägt Nahles einen härteren Kurs ein als die Briten? Fragen und Antworten zu den Plänen.

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Nahles plant Einschnitte bei Sozialleistungen für EU-Ausländer. Dabei sehen Wissenschaftler keine Belege für Sozialtourismus. Quelle: dpa

Berlin Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will in Deutschland lebende EU-Bürger von Sozialleistungen ausschließen, wenn sie nicht durch Arbeit Ansprüche erworben haben. Das sieht ein Gesetzentwurf aus ihrem Hause vor, über den die Zeitungen der Funke-Mediengruppe berichtet haben. Einen Anspruch auf Hartz IV oder Sozialhilfe soll es erst geben, wenn sich der Aufenthalt eines EU-Bürgers in Deutschland „verfestigt“ hat. Nahles setzt dafür die lange Frist von fünf Jahren an. Das Handelsblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.

Welche Rechte haben EU-Bürger, die nach Deutschland kommen?

Grundsätzlich darf jeder EU-Bürger nach Deutschland einreisen und sich bis zu drei Monate ohne weitere Formalitäten im Land aufhalten. Das ist im EU-Freizügigkeitsgesetz geregelt. Wer nach Ablauf der drei Monate in Deutschland bleiben will, muss entweder einen Arbeitsplatz gefunden haben, als Selbstständiger sein Geld verdienen oder nachweisen, dass er seinen Lebensunterhalt anders bestreiten kann, etwa durch eigenes Vermögen oder Angehörige.

Sechs Monate lang können sich EU-Bürger in Deutschland aktiv um einen Job bemühen, ohne ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu müssen. Sie haben in dieser Zeit – wie Einheimische – Anspruch auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Nicht erwerbsfähige EU-Ausländer, die sich länger als drei Monate in Deutschland aufhalten, können Sozialhilfe bekommen. Voraussetzung ist aber, dass sie nicht allein aus diesem Grund eingereist sind.

Warum entstand überhaupt Handlungsbedarf für die Regierung?

Dass der Anspruch auf Hartz IV nach einem halben Jahr endet, selbst wenn ein EU-Bürger vorher in Deutschland kurzzeitig beschäftigt war, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im sogenannten Fall „Alimanovic“ entschieden. „Die europäische Freizügigkeitsrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, Sozialhilfeleistungen an Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein – oder allein nur noch – aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt zu gewähren“, kommentierte die Bundesregierung damals das EuGH-Urteil. „Wer im Aufnahmemitgliedstaat nur kurz beschäftigt war, kann dort nicht unbegrenzt lange Sozialhilfeleistungen beziehen.“

Diese Rechtsauffassung wurde dann aber im Dezember vergangenen Jahres vom Bundessozialgericht konterkariert. Die Richter entschieden, dass es zwar rechtmäßig ist, betroffenen EU-Ausländern Hartz-IV-Leistungen vorzuenthalten. Gleichzeitig stellten sie es aber ins Ermessen der Behörden, ob nicht zumindest Sozialhilfe zu zahlen ist. Bei einem „verfestigten Aufenthalt“, den die Richter nach sechs Monaten sehen, entfällt die Ermessensentscheidung. Das heißt: Nach einem halben Jahr in Deutschland haben auch EU-Ausländer, die sich nach den Freizügigkeitsregeln eigentlich gar nicht mehr hier aufhalten dürften, Anspruch auf Sozialhilfe.

Welche Folgen hat das Urteil?

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts trifft vor allem die Kommunen, die die Sozialhilfe zahlen. Der Städte- und Gemeindebund warnte vor jährlichen Folgekosten in Höhe von 800 Millionen Euro. Der Gesetzgeber sei deshalb gefordert, hier einen Riegel vorzuschieben. Arbeitsministerin Andrea Nahles kündigte daraufhin eine Gesetzesänderung an, die jetzt Gestalt annimmt. „Wir müssen die Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme unterbinden – auch aus Selbstschutz“, hatte die Ministerin erklärt.

Geht die Regierung damit erstmals gegen vermeintlichen Sozialtourismus vor?

Nein. Im Doppelwahljahr 2014, als die bayerische Landtagswahl und die Europawahl anstanden, machte die CSU mit dem Slogan. „Wer betrügt, der fliegt“ Stimmung. Damals beherrschten vermeintliche Armutsmigranten aus Rumänien und Bulgarien die Schlagzeilen, die nur nach Deutschland einreisen, um es sich in der sozialen Hängematte bequem zu machen.

Zeitungen berichteten über angebliche „Horrorhäuser“ in einzelnen Städten, in denen sich kinderreiche Einwandererfamilien vom Balkan breit machten. Schon Ende 2014 hatte die schwarz-rote Koalition schärfere Gesetze beschlossen. So dürfen EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht durch Sozialleistungsbetrug verlieren, nicht unmittelbar wieder einreisen. Das Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitssuche hatte die Regierung damals auf sechs Monate befristet.

Um zu verhindern, dass EU-Ausländer für ihre Kinder mehrfach Kindergeld beziehen, ist seither die Angabe der Steuer-Identifikationsnummer des Kindes verpflichtend. Außerdem wurde beschlossen, dass der Bund sich stärker an den Kosten für Unterkunft und Heizung beteiligt, die die Kommunen an EU-Ausländer zahlen, die Hartz IV beziehen.


Starker Anstieg bei Rumänen und Bulgaren

Was will die Arbeitsministerin nun noch regeln?

Nach den bisher bekannt gewordenen Details soll es sowohl Hartz IV als auch Sozialhilfe künftig nur geben, wenn ein EU-Ausländer durch Arbeit auch Ansprüche erworben hat. Neu eingeführt werden sollen aber einmalige Überbrückungsleistungen. Längstens für vier Wochen erhalten die Betroffenen demnach Hilfen, um ihren unmittelbaren Bedarf für Essen, Unterkunft, Körper- und Gesundheitspflege zu decken. Zugleich erhalten sie ein Darlehen für Rückreisekosten in ihr Heimatland, wo sie anschließend Sozialhilfe beantragen können.

Übertrifft Arbeitsministerin Nahles noch den britischen Premier David Cameron?

Dem britische Premier David Cameron geht die EU-Freizügigkeit viel zu weit. Den Verbleib seines Landes in der Europäischen Union macht er deshalb auch von Änderungen in diesem Punkt abhängig. So hatte er gefordert, EU-Ausländer vier Jahre lang komplett von Sozialleistungen auszuschließen. Um den Briten entgegenzukommen, hat der Europäische Rat eine Art „Notbremse“ vorgeschlagen.

Werden in einem EU-Land das Sozialsystem, Schulen und Krankenhäuser durch Zuwanderung aus der EU unzumutbar belastet, dann kann das betreffende Land Einwanderer bis zu vier Jahre lang etwa von staatlichen Zuschüssen zum Lohn ausschließen, wenn sie Geringverdiener sind. Das soll unter anderem Rumänen, Polen oder Bulgaren davon abschrecken, überhaupt nach Großbritannien zu kommen.

Die Bundesregierung macht aber klar, dass sie an der Freizügigkeit als „Kernstück der Europäischen Union“ nicht rütteln will: „Es ist für Europa wichtig, dass jeder grenzüberschreitend nach Arbeit suchen kann“, erklärte sie einst zur Einordnung des EuGH-Urteils im Fall „Alimanovic“. „Diese Möglichkeit kommt Arbeitgebern und Arbeitsuchenden gleichermaßen zugute und hilft, Ungleichgewichte auf den Arbeitsmärkten zu überwinden.“

Gibt es Belege für massenhaften Sozialtourismus oder Sozialleistungsbetrug?

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sieht keine Belege für Sozialtourismus. Zwar waren im September 2015 bei den Jobcentern gut 422.000 Hartz-IV-Empfänger aus dem EU-Ausland registriert – 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Das Plus ist eine Folge der anhaltend starken Zuwanderung vor allem aus den osteuropäischen Beitrittsländern. Doch auch die Zahl der Beschäftigten unter den Zuwanderern ist kräftig gestiegen, bei den Osteuropäern allein um knapp 22 Prozent. Ein starker Anstieg bei den Hartz-IV-Beziehern ist bei Rumänen und Bulgaren zu beobachten.

Während die Quote unter der ausländischen Bevölkerung insgesamt mit 16,1 Prozent nahezu konstant geblieben ist, stieg sie bei Bürgern aus diesen beiden Ländern bis September 2015 binnen Jahresfrist um gut drei Prozentpunkte auf 17,2 Prozent. Knapp 62.000 bulgarische Hartz-IV-Empfänger zählte die Statistik, gut 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Etwa ein Drittel des Anstiegs entfalle aber auf Beschäftigte, die so wenig verdienen, dass sie ihr Gehalt aufstocken müssen, so das IAB. Ein weiteres Drittel der neuen Leistungsempfänger seien Kinder oder andere nicht erwerbsfähige Personen. Und das letzte Drittel entfalle auf Bulgaren, die keinen Job gefunden hätten.

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