Sozialpolitik Die Pflegeversicherung ist in den Miesen

Erstmals seit 2004 wird die gesetzliche Pflegeversicherung trotz Beitragserhöhung rote Zahlen schreiben. Grund ist die große Pflegereform. Mit ihr wurde der Kreis der Leistungsberichtigten deutlich erweitert.

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Als Folge der jüngsten Pflegereform haben immer mehr Menschen Anspruch auf Leistungen. Das treibt die Kosten. Quelle: dpa

Berlin Zum 1. Januar 2017 ist der Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung zum dritten Mal seit 2013 angehoben worden – um 0,2 Prozentpunkte auf 2,5 Prozent beziehungsweise 2,8 Prozent für Versicherte ohne Kinder. 1995, als die Pflegeversicherung gegründet wurde, lag der noch bei 1,7 Prozent. Grund für den starken Anstieg sind neben der wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen stetige Verbesserungen der Leistungen. Die  letzten und entscheidenden traten im Januar in Kraft, als die drei Pflegestufen in fünf Pflegegrade umgewandelt wurden. Sie berücksichtigen auch mentale Einschränkungen als Ursache für das Ausmaß einer Pflegebedürftigkeit stärker. Allein dadurch wird sich die Zahl der Leistungsberechtigten nach Schätzungen der Bundesregierung in diesem Jahr um etwa 200.000 Menschen erhöhen.

Doch nun zeigt sich: Die Beitragserhöhungen der vergangenen Jahre haben der gesetzlichen Pflegeversicherung zwar ein gutes Rücklagenpolster von immerhin 9,4 Milliarden Euro zum Jahresende 2016 gebracht. Sie reichen jedoch nicht, um die hohen Reformkosten aus den laufenden Einnahmen zu bezahlen. Dies teilte am Montag der Spitzenverband der Krankenkassen mit. Nach seiner Prognose werden die Ausgaben der Pflegeversicherung im Jahresverlauf wegen der Reform um satte sieben Milliarden Euro auf deutlich über 37 Milliarden Euro steigen. Dem stehen geschätzte Einnahmen von 34 Milliarden Euro gegenüber, so dass sich ein Defizit von drei Milliarden Euro ergibt. Dieses muss nun aus den Reserven finanziert werden.

Eine unerwartete Katastrophe mitten im Bundestagswahljahr ist diese Entwicklung freilich nicht. „Deutliche Ausgabensteigerungen waren aufgrund der Zielsetzung der Reform, der veränderten Pflegegrade und des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erwartet worden“, sagte dazu eine Sprecherin des Kassenverbands auf Anfrage. Auch seien die hohen Reserven in den vergangenen Jahren bewusst aufgebaut worden, "um die mit der zweiten Pflegereform einhergehenden Kosten für Leistungsdynamisierungen, Überleitungskosten und den Besitzstandsschutz" zahlen zu können.  Dabei handelt es sich zum Teil um Ausgaben, die nur vorübergehend anfallen. So haben Pflegebedürftige, deren Leistungsansprüche sich durch die neue Systematik der fünf Pflegegrade verringern würden, bis zur ihrem Tod Anspruch auf einmal gewährte Leistungen.

Insgesamt haben sich die jährlichen Beitragseinnahmen der Pflegekassen durch die Beitragserhöhungen der vergangenen Jahre um fünf Milliarden Euro im Jahr erhöht. Dass es in allzu naher Zeit weitere Beitragserhöhungen gibt, müssen die 70 Millionen gesetzlich Pflegeversicherten deshalb nicht befürchten. „Ausgehend von der derzeitig nach wie vor steigenden Konjunktur und der guten Beschäftigungslage dürften die Reserven sehr wahrscheinlich bis 2020 reichen“, so die Sprecherin des GKV-Spitzenverbands weiter. Grund ist, dass die Beiträge als Prozentsatz vom Einkommen erhoben werden. Die Einnahmen steigen daher automatisch bei Lohnerhöhungen oder wenn die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zunimmt. Der GKV-Spitzenverband will deshalb nicht ausschließen, dass das derzeit erwartete Defizit von drei Milliarden Euro am Ende noch ein wenig geringer ausfallen wird. „Genaueres wird man sicher mit dem Ablauf des dritten Quartals sagen können.“

Die DAK-Gesundheit teilte mit, bei ihr seien die Ausgaben für Pflegeleistungen durch die Reform im ersten Halbjahr um ein Fünftel gestiegen. „Es handelt sich immerhin um die weitreichendste Reform seit Einführung der Pflegeversicherung vor mehr als zwei Jahrzehnten“, sagte DAK-Chef Andreas Storm. Auch andere Kassen hatten bereits vor Wochen von einer starken Zunahme der Zahl der Neuanträge auf Pflegeleistungen berichtet. Die Linke nutzte die aktuelle Entwicklung, um für ihr Wahlprogramm in Sachen Bürgerversicherung zu werben.  „Mit unserer solidarischen Pflegeversicherung wäre das Defizit von 3,2 Milliarden Euro, wie es derzeit von den gesetzlichen Pflegekassen angezeigt wird, zu vermeiden. Mit unserem Konzept würden für die Pflege jedes Jahr mindestens 12,5 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stehen“, sagte Pia Zimmermann, Sprecherin für Pflegepolitik bei der Linken.

Sie warf der Bundesregierung vor, mit ihren Pflegereformen „nur ein paar Löcher gestopft zu haben". Tatsächlich bleibt die Pflegeversicherung auch nach den Reformen eine Teilkaskoversicherung. Dies bedeutet, die Pflegebedürftigen müssten weiterhin einen  großen Teil ihrer Ausgaben selbst tragen. Reicht ihr Einkommen oder Vermögen dazu nicht aus, springen die Sozialämter ein. Sie holen sich das Geld hinterher aber von den Angehörigen zurück.

Die Linke plädiert dagegen für eine Pflegevollversicherung. „In eine solche solidarische Pflegeversicherung würden alle Beitragszahler den gleichen Prozentsatz ihres Einkommens einzahlen. Das ist fair und gerecht. Die Zuzahlungen und Eigenanteile sollen abgeschafft werden, weil Pflege nicht arm machen darf“, sagte Zimmermann. Tatsächlich führt der Teilkasko-Charakter der Pflegeversicherung dazu, dass ärmere Pflegebedürftige wie vor der Reform im Jahr 1995 auf Sozialhilfe angewiesen bleiben und sich im Zweifel nur die schlechtere Pflegequalität leisten können. Bei Gut-Verdienern und Vermögenden wirken die Leistungen der Pflegekassen dagegen wie ein Erbenschutzprogramm: Sie können einen entsprechend höheren Teil ihrer Ersparnisse an die Nachkommen weitergeben und sich im Zweifel das teurere Pflegeheim leisten.

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