Sozialstaat und EU-Freizügigkeit Niedriglohnsektor zieht EU-Migranten an

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Der zweite Arbeitsmarkt als Magnet für EU-Migration

Unter diesen europäischen Aufstockern geht der Anstieg vor allem auf Menschen aus Bulgarien und wenigen anderen Ländern zurück. Von einigen Hundert im Jahr 2007 stieg die Zahl der bulgarischen Aufstocker auf mehr als 25.000 im Juni 2017. Dahinter liegen EU-Bürger aus Polen (knapp 25.000), Italien (20.000), Rumänien (17.000) und Griechenland (13.000).

„Die Zuwanderer aus Osteuropa wollen in Westeuropa arbeiten. Der sogenannte 2. Arbeitsmarkt in Deutschland, der durch die Möglichkeit der Aufstockung abgefedert wird, bietet ihnen dafür eine Chance. Wir beobachten in Deutschland daher eine steigende Zahl von Niedriglohnempfängern aus osteuropäischen EU-Ländern, die zusätzlich Sozialleistungen erhalten“, sagt Werner.

Den von einigen Wissenschaftlern vor Einführung der Freizügigkeit in der EU vorausgesagten „Wohlfahrtsstaatsmagnetismus“ können Werner und seine dänische Kollegin Dorte Sinbjerg Martinsen von der Universität Kopenhagen hingegen weder in Dänemark noch in Deutschland generell belegen. Denn der Anteil der Empfänger arbeitsunabhängiger sozialer Unterstützungsleistungen von EU-Ausländern ist nicht erheblich gestiegen in den vergangenen Jahren – im Gegensatz zum Anstieg der Zahl der europäischen Aufstocker in Deutschland. Den absoluten Zuwächsen beim Leistungsbezug steht ein gleichwertiger Anstieg von Unionsbürgern gegenüber, die zur Finanzierung der nationalen Sicherungssysteme beitragen und so die gewachsenen absoluten Kosten durch ihren Steuerbeitrag ausgleichen.

„Nicht die Aussicht auf eine Existenz als arbeitsloser Hilfsempfänger ist der Grund für die innereuropäische Migration, sondern der Niedriglohnsektor. Das zeigt der Vergleich mit Dänemark, das einen noch großzügigeren Sozialstaat aber keinen Niedriglohnsektor hat“, sagt Werner.

Der staatlich alimentierte Niedriglohnsektor, einst eingeführt, um Arbeitslosen die Chance auf eine bessere Arbeit zu wahren und eher Arbeit als Nicht-Arbeit zu finanzieren, wird durch den boomenden ersten Arbeitsmarkt nicht leergesaugt, sondern durch Migration, vor allem aus Osteuropa neu aufgefüllt. Die Anziehungskraft des Aufstockungssystems und des dadurch künstlich geschaffenen Niedriglohnsektors inmitten einer boomenden Hochlohnwirtschaft war vermutlich nicht im Sinne seiner Erfinder in den Zeiten der deutschen Massenarbeitslosigkeit. Aber sie ist wohl im Sinne vieler deutscher Arbeitgeber, die mit Hilfe des Aufstock-Systems sowohl die Niedrigentlohnten als auch den Staat, also die Steuerzahler, ausbeuten können.

Im Ergebnis könnte, wie Werner befürchtet, eine neue Klasse von „Working-Poor-Unionsbürgern“ in Deutschland entstehen, die aus Furcht, ihren Arbeitnehmerstatus und damit den Zugang zur Grundsicherung zu verlieren, gegenüber den Arbeitgebern auf den Einsatz der Lohnpeitsche verzichten.

Oder Sozialleistungen durch Vortäuschen einer geringfügigen Beschäftigung erschleichen, wie in Bremerhaven geschehen.

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