Soziologe Hartmut Häussermann "Ghettos gibt es in Deutschland nicht"

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Thilo Sarrazin

Standardisierte Massenproduktion, steigende Masseneinkommen, stimulierter Konsum...

Diese Grundidee des Fordismus ist dann in den Siebzigerjahren durch die Globalisierung der Ökonomie zusammengebrochen. Die Produktivität verteilt sich nun anders. Und wir haben, wie der  ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin sagt, "unproduktive Schichten", weil sie für Erwerbsarbeit nicht mehr gebraucht werden...

...und deshalb in gettoähnlichen Vierteln landen?

Gettos gibt es in Deutschland nicht. Niemand ist völlig ausgeschlossen. Aber es entwickeln sich Quartiere, wie gesagt, die Züge der Hoffnungslosigkeit tragen, die ohne Zukunft zu sein scheinen. Mit der Folge, dass die Bewohner sich ausgegrenzt und stigmatisiert fühlen, dass sich Apathie und Resignation breitmachen. Die Leute sagen dann: Die Gesellschaft hat mir gekündigt, ich bin dauerarbeitslos, keiner will mich, also kündige ich auch der Gesellschaft, werde rücksichtslos, schmeiß meinen Müll aus dem Fenster und benehme mich im Wortsinn asozial: Die andern sind mir egal. Wenn dann auch die Kinder von dieser Haltung angesteckt werden und die Schule laufend zu Misserfolgserlebnissen beiträgt, dann ist die Katastrophe da – und wir haben die Unterschicht von morgen.

Sie beschreiben eine soziale Abwärtsspirale. Wie kann man diesen Trend stoppen?

Zum Beispiel durch ein kluges Quartiersmanagement. "Jeder kann wat", heißt es in Köln – das stimmt auch. Aber man muss ihm die Möglichkeit dazu geben, sein Können zu beweisen. Dafür sorgt normalerweise der Arbeitsmarkt. Aber wenn er die Ränder nicht mehr integrieren kann, muss man eben in die Quartiere reingehen, mit den Leuten reden, ihnen Qualifikationsangebote machen.

Gäb’s genug Arbeit, gäb’s keine Probleme.

Bis zu einem gewissen Grad ja. Wenn jeder eine Arbeit finden könnte, die ihm eine angemessene Lebensführung ermöglicht, dann hätten wir viele der Probleme nicht, über die wir hier reden. Außerdem plädiere ich für die Wiedereinführung des sozialen Wohnungsbaus, damit sich die Wohnmöglichkeiten für einkommensschwache Haushalte nicht so stark räumlich konzentrieren. Dabei ist allerdings nicht an das Modell der Großsiedlungen aus den Sechzigerjahren zu denken, sondern eher an kleine Einheiten in allen Stadtteilen. Ansonsten kann ich nur sagen: Bildung, Bildung, Bildung. Dass wir sehenden Auges durch die starke Segregation in den Schulen Kinder und Jugendliche ins Subproletariat absinken lassen, halte ich für einen Skandal. Diese Kinder kennen oft nichts als ihre unmittelbare Umgebung. Ich weiß von einer Lehrerin in Berlin-Kreuzberg, die mit ihren Schülern Exkursionen nach Berlin-Tempelhof unternimmt, nur damit sie mal etwas anderes zu sehen bekommen. Wenn wir also von einer Krise der Stadt sprechen – hier haben wir sie.

Sie treten seit Jahren dafür ein, die Kinder nach amerikanischem Vorbild mit Bussen auf die Schulen der Stadt zu verteilen.

Ja, aber alle Berliner Parteien sind strikt dagegen. Und warum? Weil sie Angst vor der Mittelschicht haben. Vor den Leuten in Dahlem oder Zehlendorf. Die haben sich erfolgreich von den Unterschichten abgesondert, sich in ihre Häuser und Villen zurückgezogen – und nun soll ihnen der proletarische Nachwuchs per Bus wieder vor die Nase gesetzt werden? Hilfe! Unmöglich!

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