Soziologe Hartmut Häussermann "Ghettos gibt es in Deutschland nicht"

Der Soziologe Hartmut Häussermann über die soziale Spaltung in den Städten, das Ende des Hausfrauenmodells und die Renaissance der City.

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Hartmut Häussermann ist einer der renommiertesten deutschen Stadtforscher Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Häussermann, die Stadt der Neuzeit war stets ein Versprechen auf Freiheit, politische Emanzipation und wirtschaftlichen Wohlstand. Neuerdings jedoch sprechen Stadtforscher wie Sie von der Krise der Städte. Was meinen Sie damit?

Hartmut Häussermann: Dass die Stadt heute nicht mehr eine sichere Heimat für alle ist. Das war in den Sechziger-, Siebzigerjahren anders. Damals hatten alle noch eine Beschäftigung. Es war eine Zeit wachsender Einkommen und wachsender Steuereinnahmen für die Städte. Die soziale Marktwirtschaft war der Grundkonsens der Bundesrepublik, Ludwig Erhard sprach von der „formierten Gesellschaft“, in der jeder seinen Platz finden sollte. Damals gab es noch einen sozialen Wohnungsbau, der Familien eine Wohnqualität sicherte, die sie aus ihrem Lohneinkommen nicht bestreiten konnten. Städtepolitisch hatte das eine ungeheuer integrative Wirkung.

Und seit es kein Wachstum und keinen sozialen Wohnungsbau mehr gibt, geht es mit den Städten bergab?

Die Städte waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts damit beschäftigt, die ungebildeten, unqualifizierten Massen, die vom Land in die Stadt strömten, aufzunehmen – ein Prozess, der bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichte und dank des wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg auch gut gelang. Das Resultat war die Verbürgerlichung des Proletariats. Heute hat sich die Arbeitsmarktsituation grundlegend verändert. Fabrikarbeitsplätze, die gering Qualifizierten gute Löhne bescherten, gibt es in den Städten kaum mehr. Viele Menschen wurden arbeitslos; ein großer Teil wird nicht mehr gebraucht. Diese Leute werden in Marginalquartiere abgedrängt, an den sozialen Rand der Stadt. Die Stadt ist damit keine Integrationsmaschine mehr. Das nennen wir die Krise der Stadt.

Und der soziale Wohnungsbau kann die urbane Krise nicht abfedern?

Einen sozialen Wohnungsbau gibt es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – seit 20 Jahren nicht mehr. Und die Privatisierung des Wohnungsbaus hat in Verbindung mit der Einführung des Niedriglohnsektors und steigender Arbeitslosigkeit dazu geführt, dass immer mehr Menschen die Marktmieten in vielen Quartieren nicht bezahlen können. Das schlägt sich sozialräumlich nieder. Denn wo wohnen die? In Gegenden, die von denen, die es sich leisten können, gemieden werden. Faktisch läuft das auf eine soziale Ausgrenzung hinaus.

Woran erkennt man diese Randquartiere?

Man erkennt sie an den Langzeitarbeitslosen, an den Hartz-IV-Empfängern, an den vielen Migranten, an der sichtbaren Ärmlichkeit, an einer durch sinkende Kaufkraft langsam verwahrlosenden Infrastruktur. Man findet in diesen Vierteln Resterampen und Billigmärkte, Gruppen von Alkoholikern, herumlungernde Jugendliche, Alte, die in Mülleimern  stöbern – und Straßenzüge, denen man sofort ansieht: Hier herrscht Armut. So etwas gab es in den Sechzigerjahren nicht.

Erleben wir eine Rückkehr zu getrennten städtischen Wohlstands- und Elendsquartieren wie im 19. Jahrhundert?

In gewisser Weise schon. Auch damals gab es keine staatliche Wohnungspolitik und eine stark ausgeprägte soziale Absonderung. Heute erleben wir das Gleiche – allerdings längst nicht so krass wie damals. Der gesellschaftliche Reichtum ist unvergleichlich größer, wir haben einen Sozialstaat, der immer noch ganz gut funktioniert. Aber wir haben eben auch eine wachsende Zahl von Leuten, die auf Transferleistungen angewiesen und ganz konkret davon bedroht sind, dauerhaft abgehängt und abgedrängt zu werden.

Ist diese Beschreibung nicht ein wenig übertrieben? Bereits in den Sechzigerjahren war von einer Krise der Städte die Rede. Schon damals hieß es, dass Stadt und Umland sich polarisieren...

...ja, und dass in der Stadt nur die A-Gruppen zurückbleiben, also die Armen, Alten, Arbeitslosen und Auszubildenden – und dass die anderen, staatlich gepäppelt mit Eigenheimzulagen und Pendlerpauschalen, ins Umland ziehen, ins Reihen- oder Einfamilienhaus. Es stimmt, ja: Die Städte haben schon damals Manifeste veröffentlicht: Rettet die Städte jetzt! Und der deutsche Städtetag hat immer gewarnt: „Wir gehen zugrunde. Die, die Einkommenssteuer zahlen gehen raus, und wir bleiben auf denen sitzen, die Geld kosten.“

Großsiedlung in Hamburg-Billstedt: Quartiere, die soziale Sackgassen sind Quelle: dpa

Was also ist das Problematische an der heutigen Situation?

Jedenfalls nicht der Wunsch, dass man unter sich bleibt, in ein besseres Viertel zieht. Diese Wünsche hat es schon immer gegeben. Es gibt nun einmal unterschiedliche Einkommensgruppen, Lebensstile und ethnische Kulturen. Übrigens in allen Städten. Nur bilden sich heute Quartiere heraus, die möglicherweise Sackgassen sind. Endstationen, in die die Überflüssigen abgeschoben werden. Vielleicht kann man es am besten so sagen: Segregation wird es immer geben. Es ist nur die Frage, ob sie freiwillig passiert oder unfreiwillig.

Und dennoch sprechen einige schon wieder von einer Renaissance der Städte.

Der Innenstädte, ja, das stimmt, diese Renaissance gibt es tatsächlich. Erstens durch das Wachstum der hoch qualifizierten Dienstleistungen, in der Rechtsberatung, in den Medien und Kommunikationsberufen, in der Forschung und Entwicklung, kurz: in den Berufszweigen, die gut bezahlte Arbeitsplätze für junge, kreative Leute bieten. Zweitens durch die Veränderung des Lebensstils und der Rolle der Frau. Das Hausfrauenmodell ist für viele passé. Akademiker tun sich mit Akademikerinnen zusammen, und beide verdienen mehr oder weniger gutes Geld – oft bei instabiler Beschäftigung. Sie können ihr arbeits-, aber auch genussorientiertes Leben in innerstädtischen Quartieren viel besser organisieren als draußen am Stadtrand...

...und bilden als Zuzügler mit den Alteingessenen durchaus gut gemischte, heterogene Quartiere.

Stimmt. Gentrifizierte Viertel sind oft noch heterogen. Aber sie sind eben auch nach unten geschlossen. Es gibt immer weniger Alte und Arme in diesen Quartieren.

Aber sind die Städte nicht doch widerstandsfähiger, als Sie glauben? Sind sie nicht immer noch attraktive Tummelplätze, wo sich die unterschiedlichsten Menschen weitgehend konfliktfrei begegnen?

Sie haben Recht: Solche Beschreibungen sind immer kritische Beschreibungen – und die Städte haben sich eine erstaunliche Zähigkeit erhalten. Immer wenn es zum Beispiel ums Wohnen geht, fällt der Zille-Satz: „Man kann einen Menschen auch mit einer Wohnung erschlagen.“ Einen falscheren Satz habe ich selten gehört. Menschen sind erstaunlich anpassungsfähig – es gibt gute und schlechte Wohnungen, in denen sie sich einrichten. Wir Sozialwissenschaftler blicken aber nicht auf die Arrangements der Einzelnen, sondern auf Strukturen. Wir sehen, wie sich Gebiete herausbilden, die zwar mit der U-Bahn erreichbar, aber dennoch zunehmend abgeschlossen, sozial verriegelt sind.

Das heißt, Sie beobachten Phänomene, die der Betroffene nicht wahrnimmt –  und vielleicht nicht einmal so sieht, wenn man ihn darauf aufmerksam macht?

Ja, hier geht es um zwei verschiedene Perspektiven – und beide sind richtig. Ein Migrant kann sich durchaus wohlfühlen in einem Viertel, in dem kaum Deutsch gesprochen wird. Ich aber weiß, dass die Kinder von Migranten, die unter sich bleiben und nur die Sprache ihres Herkunftslandes sprechen, in der Schule keine Chance haben – und dass sich das Nichterlernen der deutschen Sprache sowohl für das Kind als auch städteräumlich nachteilig auswirkt. Wer heute in Berlin-Kreuzberg sein Kind in eine Schule schickt, an der 80, 90 Prozent der Kinder noch nicht Deutsch sprechen, der weiß, dass seinem Kind nach vier Jahren ein Jahr Lernfortschritt fehlt.

Und alle Eltern, die einigermaßen bei Trost sind, sagen: Da zieh ich lieber weg.

So ist es. Dadurch verstärkt sich die Segregation in den Schulen – und dadurch wird die Situation für die Übrigbleibenden immer aussichtsloser. Im Ergebnis haben wir es mit einer Umkehrung der progressiven städtebaulichen Ideen aus den Zwanzigerjahren zu tun. Die neuen Siedlungen und nach dem Zweiten Weltkrieg die Großsiedlungen erfüllten ja einen sozialen Zweck. Sie signalisierten: Wir kennen keine Klassen und Schichten mehr, wir kennen nur noch den „modernen“ Menschen – und alle Menschen mit je unterschied-lichen Einkommen und Lebensstilen sollen hier zusammenleben: jedem sein gleiches Auto, seine gleiche Wohnung, seinen Kühlschrank. Das war die sozialliberale Fortschrittsidee des Fordismus.

Thilo Sarrazin

Standardisierte Massenproduktion, steigende Masseneinkommen, stimulierter Konsum...

Diese Grundidee des Fordismus ist dann in den Siebzigerjahren durch die Globalisierung der Ökonomie zusammengebrochen. Die Produktivität verteilt sich nun anders. Und wir haben, wie der  ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin sagt, "unproduktive Schichten", weil sie für Erwerbsarbeit nicht mehr gebraucht werden...

...und deshalb in gettoähnlichen Vierteln landen?

Gettos gibt es in Deutschland nicht. Niemand ist völlig ausgeschlossen. Aber es entwickeln sich Quartiere, wie gesagt, die Züge der Hoffnungslosigkeit tragen, die ohne Zukunft zu sein scheinen. Mit der Folge, dass die Bewohner sich ausgegrenzt und stigmatisiert fühlen, dass sich Apathie und Resignation breitmachen. Die Leute sagen dann: Die Gesellschaft hat mir gekündigt, ich bin dauerarbeitslos, keiner will mich, also kündige ich auch der Gesellschaft, werde rücksichtslos, schmeiß meinen Müll aus dem Fenster und benehme mich im Wortsinn asozial: Die andern sind mir egal. Wenn dann auch die Kinder von dieser Haltung angesteckt werden und die Schule laufend zu Misserfolgserlebnissen beiträgt, dann ist die Katastrophe da – und wir haben die Unterschicht von morgen.

Sie beschreiben eine soziale Abwärtsspirale. Wie kann man diesen Trend stoppen?

Zum Beispiel durch ein kluges Quartiersmanagement. "Jeder kann wat", heißt es in Köln – das stimmt auch. Aber man muss ihm die Möglichkeit dazu geben, sein Können zu beweisen. Dafür sorgt normalerweise der Arbeitsmarkt. Aber wenn er die Ränder nicht mehr integrieren kann, muss man eben in die Quartiere reingehen, mit den Leuten reden, ihnen Qualifikationsangebote machen.

Gäb’s genug Arbeit, gäb’s keine Probleme.

Bis zu einem gewissen Grad ja. Wenn jeder eine Arbeit finden könnte, die ihm eine angemessene Lebensführung ermöglicht, dann hätten wir viele der Probleme nicht, über die wir hier reden. Außerdem plädiere ich für die Wiedereinführung des sozialen Wohnungsbaus, damit sich die Wohnmöglichkeiten für einkommensschwache Haushalte nicht so stark räumlich konzentrieren. Dabei ist allerdings nicht an das Modell der Großsiedlungen aus den Sechzigerjahren zu denken, sondern eher an kleine Einheiten in allen Stadtteilen. Ansonsten kann ich nur sagen: Bildung, Bildung, Bildung. Dass wir sehenden Auges durch die starke Segregation in den Schulen Kinder und Jugendliche ins Subproletariat absinken lassen, halte ich für einen Skandal. Diese Kinder kennen oft nichts als ihre unmittelbare Umgebung. Ich weiß von einer Lehrerin in Berlin-Kreuzberg, die mit ihren Schülern Exkursionen nach Berlin-Tempelhof unternimmt, nur damit sie mal etwas anderes zu sehen bekommen. Wenn wir also von einer Krise der Stadt sprechen – hier haben wir sie.

Sie treten seit Jahren dafür ein, die Kinder nach amerikanischem Vorbild mit Bussen auf die Schulen der Stadt zu verteilen.

Ja, aber alle Berliner Parteien sind strikt dagegen. Und warum? Weil sie Angst vor der Mittelschicht haben. Vor den Leuten in Dahlem oder Zehlendorf. Die haben sich erfolgreich von den Unterschichten abgesondert, sich in ihre Häuser und Villen zurückgezogen – und nun soll ihnen der proletarische Nachwuchs per Bus wieder vor die Nase gesetzt werden? Hilfe! Unmöglich!

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