Soziologe Wolfgang Sofsky "Sicherheit von Staats wegen war immer Illusion"

Wir erleben das Zerplatzen von falschen Hoffnungen auf den Staat, glaubt der Gewaltforscher Wolfgang Sofsky. Wenn "die Obrigkeit" die Loyalität der Bürger nicht einbüßen wolle, müsse sie verlorenen Boden zurückerobern.

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Sicherheitspolitik: Der Staat und sein Gewaltmonopol. Quelle: imago images

WirtschaftsWoche: Herr Sofsky, der Wunsch der Menschen nach Sicherheit ist eines Ihrer zentralen Themen. Ist das Bedürfnis der Deutschen danach in jüngster Zeit gewachsen? Oder haben die Bedrohungen tatsächlich zugenommen?
Wolfgang Sofsky: Der dringliche Wunsch nach Sicherheit hängt weniger von den realen als von den vorgestellten Gefahren ab. Diese Vorstellungen wiederum ergeben sich aus kollektiven Stimmungslagen, Bewertungen, Phantasien. Zweifellos erscheint die Welt in Mitteleuropa nach den turbulenten Jahren 2015 und 2016 etwas zerbrechlicher. Terroranschläge, Massenzuwanderung, Kriege im Nahen Osten und in Osteuropa, die Krise der Währung, die enorme Staatsverschuldung, die Krise der EU und der politischen Repräsentation und so weiter. Viele Zeitgenossen haben das ungute Gefühl, dass viele Probleme nicht wirklich gelöst, sondern verschoben, vertagt, vereist sind. So besteht eine chronische Unsicherheit, wenn nicht Ängstlichkeit, die durch regelmäßige mediale Daueralarmierung immer neu bestätigt wird. Diese Ängstlichkeit scheint weniger eine Altersfrage zu sein. Auch manche jungen Leute kommen nicht aus ihren Schutz- und Schonräumen heraus, weil sie insgeheim fürchten,  dass die Welt nicht so ist, wie es die Illusionen verheißen, die man ihnen vorgemacht hat.

Zur Person

Sie schreiben in Ihrem Buch „Prinzip Sicherheit“ über den „Sicherheitsstaat“. Der wird in Deutschland mancherorts durchaus vermisst, zum Beispiel in Bahnhöfen. Müssen die Deutschen sich darauf einstellen, dass ihr Staat sie nicht mehr beschützen kann?
Sicherheit von Staats wegen war immer eine Illusion. Will man nicht jedem dritten Bürger einen Aufpasser zur Seite stellen, bleibt das Leben immer von Unsicherheit überschattet. Doch wie schwarz wären die Schatten allgegenwärtiger Aufpasser? Das heißt natürlich nicht, dass ein entschlossener Kampf gegen Banden-, Einbruchs-, Sexual- und andere Kriminalität nicht geboten wäre. Dass jedermann zu jeder Zeit in jeden Winkel der Gesellschaft gehen kann, war historisch immer die Ausnahme. Aber fatal wird es, wenn sich nicht einmal die Obrigkeit mehr in die No-Go-Areas wagt.    

Hat der deutsche Staat, indem er sein Versprechen der Sicherheit nicht einlösen kann, bereits an Legitimität verloren?
Nehmen wir als Indikatoren für schwindenden Legitimitätsglauben die Wahlverweigerung, einen gewissen Parteienverdruss und das Wachstum rechtsnationaler Parteien, dann ist der Verlust an Massenloyalität unübersehbar. Die größte politische „Partei“ sind die Nichtwähler, je nach Wahl zwischen 25 bis 45 Prozent hierzulande. Und rechnet man die Zustimmungsquote auf alle Wahlberechtigten um, dann repräsentiert die CDU rund ein Viertel, die SPD vielleicht 17 Prozent und die Grünen knapp fünf Prozent der Wahlbevölkerung. Daran gemessen, erscheint das politische Personal medial etwas überrepräsentiert.

Zu der „Kultur der Ängstlichkeit“, die sie feststellen, gehört für Sie auch die Tendenz, alle politischen Fragen hinter ökonomischen zu verstecken, Machtfragen zu entschärfen, einstige politische Gegner zu Partnern umzuinterpretieren und grundlegende Entscheidungen zu vermeiden. Wie sieht diesbezüglich Ihr Fazit der bisherigen Regierungszeit von Angela Merkel aus? Ist sie eher ängstlich oder mutig?
Von Henry David Thoreau stammt der schöne Satz: „Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert“. Das ist der klassische libertäre Traum von weniger Herrschaft. Man hat Frau Merkel häufig vorgehalten, sie schiebe Probleme auf die lange Bank, um dann gemäß der vermuteten Mehrheitsmeinung zu entscheiden. Das hinterließ gelegentlich den Eindruck, es werde gar nicht regiert. In Wahrheit hat Merkel nicht selten vollkommen voluntaristisch, geradezu willkürlich agiert. Nach Fukushima wurde – aus Furcht vor Tsunamis an Rhein, Neckar und Donau – der hastige Ausstieg aus der Atomwirtschaft verfügt. Letztes Jahr wurde eine „Willkommenspolitik“ ausgerufen mit treuherzigen Appellen an den guten Integrationswillen aller Wohlmeinenden, ohne die sozialen Reserven  und kulturellen Folgen auch nur zu bedenken. Mut an der falschen Stelle könnte man sagen, gepaart mit „moralischer“ und „zivilisatorischer“ Überheblichkeit - und Duckmäuserei gegenüber Despoten.

"Es zerfallen eher die Illusionen der Ordnung."

In einer kapitalistischen Wirtschaft ist unternehmerisches Risiko unerlässlich. Doch tatsächlich tragen in vielen Fällen diejenigen, die Risiken eingegangen sind, im Schadensfall nicht die Konsequenzen. Stichwort: „To big to fail“. Der „Sicherheitsstaat“ führt sich dadurch selbst ad absurdum. Andererseits halst sich der Staat soziale Aufgaben in einem Maße auf, das ihn absehbar überfordern wird. Gibt’s einen Ausweg?
Zu den Staatsillusionen gehört die Idee, Politik könne die Wirtschaft lenken, Arbeitsplätze schaffen, Banken retten, Märkte durchregulieren, Währungen kontrollieren, Armut verhindern, Wohlstand vermehren. Der sterbliche Gott Leviathan soll Wirtschaft und Gesellschaft steuern. Dieser totalitäre Traum erzeugt falsche Ansprüche, törichte Hoffnungen und gesellschaftliche Untätigkeit. „Verschlankung“ des Staates heißt nicht zuletzt Redelegation von Risiko und Verantwortung. Jeder wirtschaftliche Akteur, das gilt für Generaldirektoren, Abteilungsleiter, Bankiers, Sparer und Lohnarbeiter, handelt auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko. Die gezielte Verschleppung, Verschleierung oder Verschiebung von Insolvenzen dürfte kaum die Lösung sein.

Viele Menschen erfasst derzeit angesichts einer steigenden Zahl ungelöster, vielleicht unlösbarer politischer und ökonomischer Krisen und Kriege das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Sind wir Zeugen eines großen Zerfalls von jahrzehntelang fest gefügten Ordnungssystemen?
Es zerfallen eher die Illusionen der Ordnung. Auch die EU ist, wie jedes Staatenbündnis, nur eine historische Episode. Altbekannte Elitensysteme werden durch Protestbewegungen von links oder rechts gelegentlich etwas aufgemischt. Kriege gehören zur Geschichte der Menschheit. Das Recht ändert sich mit den Konstellationen der Macht. Und der „Weltstaat“, der für allgemeine Befriedung sorgen soll, ist eine Fiktion. Wenn falsche Hoffnungen zerplatzen, bewegt man sich zumindest auf dem Boden der Tatsachen.

Große Terroranschläge in Europa

Der Soziologe Wolfgang Streeck spricht vom bevorstehenden Ende des Kapitalismus als Gesellschaftssystem. Wie sehen Sie das?
Der Kapitalismus wurde schon vielfach totgesagt. Er hat alle Untergangsvisionen überlebt und sich wechselnden Bedingungen angepasst. Die erste Frage ist ja, was „Kapitalismus“ genau heißen soll. Gesellschaftliche Ungleichheit oder Marktwirtschaft sind für den Kapitalismus nicht spezifisch. Seine zentrale Institution ist ja nicht die Geldwirtschaft, die Finanzindustrie oder die Monetarisierung aller sozialen Verhältnisse, sondern der Arbeitsmarkt. Das Ende des Kapitalismus wäre das Ende des Arbeitsmarktes, der Übergang von der Lohnarbeit zur Staatsbeamtenexistenz von jedermann, von der Wiege bis zur Bahre. Das wünschen sich manche, aber das ist nirgends zu erkennen.

Wenn staatliche Ordnungen verfallen, drohen dann möglicherweise auch in Europa irgendwann „Räume der Gewalt“, wie sie der Historiker Jörg Baberowski in seinem gleichnamigen Buch beschreibt?
Solche Prozesse konnte man in Ex-Jugoslawien beobachten, im Osten der Ukraine, im Nahen Osten, Zentralasien, Mittel- und Südamerika, Westafrika. Aber man mache sich nichts vor! Der moderne Zentralstaat hat selbst die effektivste Gewaltmaschinerie hervorgebracht und eingesetzt, die sich denken lässt, nämlich das moderne Militär mit seiner gesamten Destruktivkraft an Personal und Technik. Das Massenheer ist eine etatistische „Errungenschaft“. Staatsherrschaft ist ohnehin nie gewaltfrei. Sie will nur die Gewaltmittel in den eigenen Händen monopolisieren. Sie verspricht Sicherheit und Gewaltfreiheit, indem sie Ungehorsam, Illoyalität, Abweichung unterdrückt, notfalls mit Gewalt.

Also erwarten Sie, dass auch der deutsche Staat seine Gewaltmittel verstärkt und in den No-Go-Areas Zähne zeigt?
Um es ganz machtpraktisch zu sagen: Falls die Obrigkeit an der freiwilligen Loyalität ihrer Untertanen interessiert ist, wird sie Territorien, die "Parallelwelten", in die sie sich nicht mehr hineinwagt, physisch und symbolisch zurückerobern müssen - eine schwierige und riskante Arbeit. Die Siedlungen und Quartiere, wo Kinder, Frauen, Männer, Homosexuelle, Obdachlose, Ausländer oder politische Gegner um Leib und Leben fürchten müssen, wird sie gleichfalls durch effektive Präsenz besetzt halten müssen, um einen minimalen Schutz zu garantieren. Und die Terrains, wo ihr staatswichtige Informationen fehlen, wird sie wirksam infiltrieren müssen, wobei es zweckmäßig ist, nicht selbst unterwandert zu werden. All dies sind Schutzmaßnahmen zur öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Befriedung. Staatliche Repression greift dort, wo die soziale Kontrolle in den Communities versagt. Dabei kommt es auf eine kluge Kombination von Aufklärung, Präsenz, Überredung, Bestechung, Drohung, Zwang und gegebenenfalls auch Gewalt an. Wo die Obrigkeit diese Aufgabe schuldig bleibt, fangen enttäuschte Untertanen früher oder später an, ihre Sicherheit in die eigenen Hände zu nehmen. Das könnte noch ungemütlicher werden.

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