SPD-Linker Ralf Stegner „An Steinbrücks Geringschätzung störe ich mich sehr“

Peer Steinbrücks neues Buch ist voller Seitenhiebe auf die SPD. Das lässt die Parteilinke nicht auf sich sitzen. Ihr Wortführer Ralf Stegner gibt in seinem Gastbeitrag dem einstigen Kanzlerkandidaten deutlich Kontra.

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Der SPD-Bundesvize Ralf Stegner: „Lesenswertes Buch, flott geschrieben, selbstbewusster Peer Steinbrück, immer erste Liga. Ein Sozialdemokrat, streitbar für Freund und Feind.“ Quelle: dpa

Berlin Peer Steinbrück kann Bücher schreiben. Und er ist ein streitbarer Kopf, und  war es auch immer schon. Das gilt stets für Freund wie für Feind. Sein neues Buch „Vertagte Zukunft“ stellt das wieder offen zur Schau. Während er sich in den hinteren Kapiteln vornehmlich mit aktuellen Gegenwarts- und Zukunftsfragen beschäftigt, die ich in vielen Punkten teile, gibt er in den vorderen Kapiteln Auskunft über seine Sicht auf den Wahlkampf 2013.

Das bietet Reibungsfläche - nicht nur, aber besonders für die Menschen in unserer gemeinsamen Partei, der SPD. Reibung erzeugt Wärme, somit geht das in Ordnung. Die SPD hatte immer zwei Flügel. Peer Steinbrück gehört zum konservativen, ich zum progressiven Flügel. Leidenschaftliche Sozialdemokraten sind wir beide, und wir teilen eine gemeinsame Geschichte: In den 90er Jahren saßen wir zusammen im Kieler Kabinett. Den Anfang seines Buches macht die etwas kokett geratene Selbstkritik, die er an seiner Kanzlerkandidatur übt. Sie ist wohl ehrlich, ja. Sie bestärkt aber auch und zuerst die Marke Steinbrück.

An der in Teilen dieser ersten Kapitel durchscheinenden Geringschätzung von Mitgliedern und Aktiven störe ich mich sehr. Zwar dankt Peer Steinbrück zwischendurch auch denen, die im Wahlkampf mit ihm Seit‘ an Seit‘ gekämpft haben.

Aber wenn er zum Beispiel Parteimitglieder  „lupenreine Sozialdemokraten“, „Orthodoxe“ und „eingeschworene Parteisoldaten“ nennt, oder sagt, dass bei SPD-Parteitagen die bei den Wählern erfolgreichen Führungspersonen abgewatscht würden, weil sie zu wenig auf Linie seien (oder, wie wohl Peer Steinbrück es sagen würde: sich genug Beinfreiheit verschafft haben), verfestigt sich der Eindruck: Dieser Kandidat muss es wirklich schwer gehabt haben mit seiner Partei.  Oder aber er folgte der Haltung: Erfolgreiche Kanzler(-Kandidaten) sind solche, die sich auch gegen die SPD profilieren und gerne von der konservativen Konkurrenz und den Medien genau dafür gelobt werden.

Kritik äußert Peer Steinbrück auch am SPD-Wahlprogramm. Es sei zu lang gewesen und habe eine „unklare Stoßrichtung“ gehabt. Diese Einschätzung teile ich überhaupt nicht: Das SPD-Wahlprogramm 2013 war das beste seit langer Zeit - mit sehr klarem Kompass für die großen und wichtigen Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Ich bin überzeugt: Ohne diese Themen unseres Programms, vom Mindestlohn über die Rente nach 45 Versicherungsjahren, die Entlastung der Kommunen, die Energiewende und die Lohngerechtigkeit für Männer und Frauen bis zur Mietpreisbremse, die wir trotz der kümmerlichen 25 Prozent fast alle in den Koalitionsvertrag mit der Union schreiben konnten, und die aktuell unsere Ministerinnen und Minister in der Großen Koalition sauber umsetzen, hätten wir wohl das Ergebnis von 2009 noch unterboten!

Inhaltlich hadert Peer Steinbrück explizit mit dem Steuerkonzept und dem Rentenkonzept im Programm. Das ist zumindest nicht widerspruchsfrei: Hat er doch im Bundestag das Rentenpaket mitbeschlossen, das er hier kritisiert.


„Wir leiden immer noch unter der Agenda-Zeit“

Peer Steinbrück analysiert weiter, die „implizite Erzählung“ des Wahlprogramms sei am „Lebensgefühl der meisten Wähler“ vorbeigegangen, weil sie auf dem falschen Bild beruht habe, Deutschland stünde am Abgrund. Ich halte dagegen: Ein Erzählung, in der es nicht um unsere ureigenen Grundwerte gegangen wäre, sondern darum, die nettere Ausgabe der Union zu sein, hätte uns unsere – wenigen – verbliebenen Stammwählerinnen und -wähler gänzlich vergrault.

Auf den Straßen und an den Info-Ständen können wir es hören: Wir leiden immer noch unter dem Vertrauensverlust, den wir uns nach den rot-grünen Sozialreformen in der Post-Agenda-Zeit eingehandelt haben. Somit ging es bei der Wahlentscheidung Vieler also möglicherweise gar nicht so sehr um unser Wahlprogramm, sondern um die Frage, ob man uns zutraut, es auch ernst zu meinen und umzusetzen. Und manchmal hörten wir an den Wahlständen auch die Frage, ob der Kandidat dafür der richtige sei.

Weniger Gerechtigkeit darf nicht das Thema der Sozialdemokratie sein. Das findet auch Peer Steinbrück, wenn er schreibt „Kein Zweifel: Der Sozialstaat und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit sind Voraussetzungen für gesellschaftliche Stabilität und wirtschaftlichen Erfolg.“ Doch sei das Wirtschaftsprofil der SPD nicht ausgeprägt genug, ergänzt er. Ich stimme zu, dass die SPD gute Wirtschaftspolitik machen muss. Doch oft liegt hier ein Missverständnis, oder eine Begriffsunschärfe vor: Wirtschaftspolitik besteht eben nicht nur aus Maßnahmen, die Unternehmern direkt nützen, sondern auch aus solchen, die den Arbeitnehmern und Konsumenten helfen.

Wenn Peer Steinbrück schreibt: „Die historische Aufgabe der SPD, für die sie seit ihrer Gründung gekämpft hat (…) ist trotz Mängeln und einem immerwährenden Korrekturbedarf weitgehend erfüllt“, sehe ich das deutlich anders! Ungleichheit nimmt zu, die Spaltung der Gesellschaft vertieft sich, die medizinische Versorgung ist höchst ungleich, die Chancen auf guten Lohn sind trotz mindestens gleichguter Bildung für Frauen deutlich schlechter als für Männer, Menschen mit fremd klingenden Namen haben es schwerer auf dem Arbeitsmarkt.


„Ein Sozialdemokrat, streitbar für Freund und Feind“

Das sind nur wenige Punkte, die klar machen: Hier ist die Sozialdemokratie gefordert, mit konkreten Maßnahmen und Ideen. Sympathisch ist: Auch ein Peer Steinbrück scheint sich selbst nicht ganz sicher zu sein. Drei Seiten weiter schreibt er: „Ich will nicht in die Reihe derer gerückt werden, die den historischen Auftrag der SPD für erfüllt halten. Unter den Bedingungen der Globalisierung und Machtkonzentration im digitalen Zeitalter und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Deklassierungen und ungelöster Integrationsprobleme ist ihre „Mission“ keineswegs obsolet.“

Finanz- und europapolitisch beweist Peer Steinbrück Weitsicht. Er ist ein finanzpolitischer Fachmann erster Klasse. Es ist richtig, dass die aktuelle Wirtschaftsschwäche in Europa auch durch die fehlenden Investitionen in Bildung und Infrastruktur ausgelöst worden sind. Eine europäische Friedensordnung ist nicht mehr so sicher, wie sie noch vor wenigen Jahren schien. Wir müssen dafür arbeiten, dass sie erhalten bleibt und als Beispiel für andere Regionen der Welt taugen kann.

Die wichtige Frage, bei wem eigentlich der Primat liegt – ob bei der Politik oder bei privaten Großakteuren – ist eine der zentralen im Einleitungskapitel und auch später wieder – und sie wird uns weiter beschäftigen, nicht nur im Hinblick auf TTIP und Ceta. Die Antwort hier ist klar – wir müssen sie durchsetzen.

Das Ringen der Politik um gute Lösungen für möglichst alle Menschen ist meistens anstrengend, das liest man auch aus diesem Buch. Und auch da stimme ich Peer Steinbrück zu: Demokratie und Freiheit bleiben nicht von selbst. Wir müssen uns für sie anstrengen. Ich kenne keine bessere Alternative für unsere Gesellschaft.

Also eigentlich alles wie immer? Lesenswertes Buch, flott geschrieben, selbstbewusster Peer Steinbrück, immer erste Liga. Ein Sozialdemokrat, streitbar für Freund und Feind.

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