WirtschaftsWoche: Herr Dreier, gestern Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM), heute Fiskalpakt, morgen vielleicht Schuldenunion. Wie viel Europa ist mit dem Grundgesetz überhaupt zu machen?
Dreier: Die entscheidende Frage ist, wann wir den Punkt des Identitätswechsels der Bundesrepublik Deutschland und unseres Grundgesetzes erreichen. Wenn Deutschland vom souveränen Staat zu einem Gliedstaat der Europäischen Union herabgestuft werden soll, dann brauchen wir eine neue Verfassung.
Ist dieser Punkt mit dem jetzt verabschiedeten ESM bereits erreicht?
Im Kern liegt der Frage nach der noch zulässigen Kompetenzverlagerung auf die Europäische Union das Sorites-Paradoxon zugrunde: Wenn ich drei Sandkörner auf den Boden lege, dann würde niemand sagen, das sei ein Sandhaufen. Auch bei den nächsten drei käme keiner auf die Idee. Wenn ich den Vorgang aber viele Tausend Mal wiederhole, dann liegt da ohne Zweifel ein Sandhaufen. Nur kann niemand sagen, mit welchem Sandkorn es ein Sandhaufen geworden ist. Ähnlich wissen wir: Wenn der Staatenbund Stück für Stück seine Kompetenzen auf die höhere Ebene abgibt, wird er irgendwann ein Bundesstaat sein. Aber welche Kompetenzübertragung hat aus dem Staatenbund einen Bundesstaat werden lassen?
Sind wir nicht gerade an einem Punkt, an dem die politische Entscheidung einer ganzen Handvoll Sand gleicht?
Dafür spricht einiges: der Sprung von der Quantität zur Qualität. In seiner Entscheidung zum Lissabon-Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht ja versucht, Kompetenzen zu definieren, die Deutschland nicht aufgeben darf, solange das Grundgesetz gilt. Auch wenn dieser Katalog vielleicht ein bisschen lang und bunt geraten ist: Die Budgethoheit spielt darin eine zentrale Rolle.
Wieder so ein vager Begriff. Wenn Deutschland für Summen haftet, die den Umfang des Staatshaushalts überschreiten, kann man dann noch von Budgethoheit sprechen?
Budgethoheit ist eigentlich kein vager Begriff. Es ist nur die Frage, wie weit selbst mit Zustimmung des Parlaments dieses Hoheitsrecht auf die supranationale Ebene übertragen werden darf. Der ESM sieht Eingriffsrechte in die Haushalte der Euro-Staaten vor.
Aber ist das nicht notwendig, um sicherzustellen, dass aufseiten der Krisenländer auch Reformanstrengungen unternommen werden?
Das mag ja sein. Aber schon der Begriff „Gouverneursrat“ klingt doch befremdlich. Da weht ein Hauch von Besatzungsmacht mit, zwar nicht militärisch, wohl aber ökonomisch.
Das Verfassungsgericht muss den ESM also stoppen?
Das muss das Gericht entscheiden. Sicher ließe sich ein Weg finden, auch diesen Vertrag noch einmal passieren zu lassen, vielleicht mit Auflagen. Schon kurz nach dem Lissabon-Urteil gab es ja einen Fall, da ging es um die Altersdiskriminierung von Arbeitnehmern. Viele Verfassungsrechtler sind davon ausgegangen, das Gericht würde hier sozusagen die Reißleine ziehen. Hat es nicht getan. Allerdings scheinen die Signale in jüngerer Zeit klar: Viel Spielraum bleibt nicht mehr.
Volksabstimmung über eine neue Verfassung
Und was kommt dann? Einige Politiker schlagen eine Volksabstimmung vor.
Da müsste man zunächst einmal Klarheit schaffen, was für eine Art von Volksabstimmung man meint. Soll es eine Entscheidung des Volkes im Rahmen des Grundgesetzes sein? Dann müssten wir vorher unsere Verfassung ändern, denn im Augenblick ist das nicht vorgesehen. Oder soll es eine Volksabstimmung sein, mit der eine neue Verfassung beschlossen wird? Das wäre natürlich etwas ganz anderes.
Eine Revolution?
Gerade nicht. Das deutsche Grundgesetz weist nämlich eine durchaus ungewöhnliche Eigenart auf: Es regelt seine eigene Ablösung. Artikel 146 baut eine Legalitätsbrücke zwischen altem und neuem Staatsgrundgesetz.
Mit dem Grundgesetz sind wir bisher doch nicht schlecht gefahren.
Richtig. Aber eine neue Verfassung heißt ja nicht, dass man alles anders machen muss. Es wäre sogar möglich, die gleiche Verfassung bloß um eine Passage zu ergänzen, die den europäischen Bundesstaat als Ziel festschreibt. Das halte ich aber politisch nicht unbedingt für die wahrscheinlichste Variante.
Denn ist die Büchse der Pandora erst mal geöffnet, kann man viel Schabernack mit der Verfassung treiben.
Warum verbindet man in Deutschland das Aktivwerden des Volkes immer mit Horrorszenarien? Wir haben inzwischen mehr als 60 Jahre ununterbrochene Demokratieerfahrung, da kann man sich zutrauen, eine neue Verfassung zu entwickeln. Zudem ist das Grundgesetz keineswegs perfekt.
Sie rühren am einzig Heiligen, was dem säkularen Deutschen nach dem Verlust der Deutschen Bundesbank geblieben ist.
Dreier: Der Idee einer Sakralisierung der Verfassung stehe ich in der Tat skeptisch gegenüber. Mir ist der nüchterne Blick auf Gesetze als Menschenwerk sympathischer, Grundgesetze eingeschlossen. Schauen Sie sich doch nur die Ewigkeitsgarantie in Artikel 79 an: Da wird der Bundesstaat auf alle Zeiten vor Veränderung geschützt. Es leuchtet doch wirklich nicht ein, den Deutschen zu verbieten, einen Zentralstaat zu schaffen, selbst wenn das Volk, alle Abgeordneten und Länder es wollten.
In Karlsruhe klagen 12.000 Menschen gegen den ESM. Das zeigt, dass viele nichts mehr fürchten als eine neue Verfassung. Im Grundgesetz suchen sie Schutz.
Diese Menschen fürchten gewiss vieles, aber weniger eine neue Verfassung, an deren Schaffung sie beteiligt werden. Was sie einzuklagen versuchen, ist doch: Solange das Grundgesetz gilt, sind so weitgehende Maßnahmen wie der ESM nicht zulässig, weil das die Kernkompetenzen des Staates zu stark beschneidet. Dafür bräuchten wir eine neue Verfassung, die Deutschland zu einem Gliedstaat der „Vereinigten Staaten von Europa“ machen würde. Dann wäre die große Frage, ob es dafür in Deutschland eine Mehrheit gäbe. Ich glaube das eher nicht.
"Viel zu ungleich für einen Bundesstaat"
Aber liegt das nicht vor allem an der mangelnden Legitimation der Organe?
Genau. Diese Defizite der demokratischen Legitimation der europäischen Organe sind aber auf absehbare Zeit unaufhebbar. Es fehlt der Europäischen Union an allem, um zu einem wirklichen einheitlichen Bundesstaat zu werden. Vor allem fehlt der zivilgesellschaftliche Unterbau, die kritische Öffentlichkeit, eine europäische Parteien- und Medienlandschaft. Mit 27 Mitgliedern müssen wir konstatieren: Wir sind viel zu ungleich, um zu einem gemeinsamen Bundesstaat zu verschmelzen. Mit den sechs Gründungsmitgliedern wäre das vielleicht noch möglich gewesen.
Aber ziehen wir nicht sogar genau die falschen Schlüsse, wenn wir, statt neue Legitimität zu schaffen, immer mehr Aufgaben über Organe wie die EZB, den ESM oder die Euro-Gruppe erledigen? Keines dieser Gremien ist vom Volk gewählt.
Machen wir uns nichts vor: Niemand profitiert von der europäischen Integration mehr als die Exekutive. Dieser Trend besteht schon lange, in der Krise wird er vollends offensichtlich. Im Zusammenspiel mit den Märkten, die jede Äußerung eines Regierungschefs als gesetzgeberische Tatsache auslegen, verstärkt er sich noch.
Da könnte das Verfassungsgericht doch einen Ausweg bieten. Wenn es heute klar sagen würde, bis dahin dürft ihr mit dem Grundgesetz gehen, dann müsste sich die Politik darauf berufen.
Das hat das Bundesverfassungsgericht doch mit dem Lissabon-Urteil versucht. Aber das Gericht entscheidet eben auch nicht im politik- und wirtschaftsfreien Raum. Und der Druck eines Szenarios, in dem es am Ende vielleicht heißt, das Verfassungsgericht hat den Euro gesprengt, ist natürlich immens.
Darf so etwas ein Gericht leiten? Es legt doch nur die Verfassung aus – und wenn dabei herauskommt, dass etwas unzulässig ist, dann kann es ja nichts dazu.
Von außen lässt sich das leicht sagen. Das Problem ist aus meiner Sicht, dass zum Beispiel der Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel – das Scheitern des Euro würde ein Scheitern Europas bedeuten – einen Sachzwang konstruiert, den es so nicht gibt. Natürlich weiß niemand, was passiert, wenn sich die Währungsunion auflöst. Aber genauso wenig wissen wir, was passiert, wenn wir so weitermachen wie bisher. Deshalb sollten wir die Sache tatsächlich entwicklungsoffen diskutieren.
...und auch ein Ende des Euro in die Abwägung einbeziehen?
Zumindest sollte man beginnen, darüber nachzudenken, ob beim rastlos voranschreitenden europäischen Integrationsprozess alles richtig gelaufen ist. Der kannte ja immer nur eine Richtung: inhaltliche Intensivierung und territoriale Expansion, und zwar beides gleichzeitig. Vielleicht sollten wir den Prozess zur Abwechslung einmal entschleunigen und in Ruhe auf das erreichte Ergebnis zurückschauen. Möglicherweise kommt man dann zu dem Schluss: Vieles ging zu schnell, und manches hätten wir besser ganz gelassen.