Staatsrechtler Dreier "Das Grundgesetz ist nicht perfekt"

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Volksabstimmung über eine neue Verfassung

National oder auf EU-Ebene entscheiden?
Die deutsche und die europäische Flagge Quelle: dpa
Rentner Quelle: dpa
Die Familie einer Sozialhilfeempfängerin Quelle: dpa
Eine Steuererklärung Quelle: dpa
Die Schulden-Uhr Quelle: dpa
Ein Jobcenter in Madrid Quelle: dpa
Eine Migrantin in einem Deutsch-Kurs Quelle: dpa

Und was kommt dann? Einige Politiker schlagen eine Volksabstimmung vor.

Da müsste man zunächst einmal Klarheit schaffen, was für eine Art von Volksabstimmung man meint. Soll es eine Entscheidung des Volkes im Rahmen des Grundgesetzes sein? Dann müssten wir vorher unsere Verfassung ändern, denn im Augenblick ist das nicht vorgesehen. Oder soll es eine Volksabstimmung sein, mit der eine neue Verfassung beschlossen wird? Das wäre natürlich etwas ganz anderes.

Eine Revolution?

Gerade nicht. Das deutsche Grundgesetz weist nämlich eine durchaus ungewöhnliche Eigenart auf: Es regelt seine eigene Ablösung. Artikel 146 baut eine Legalitätsbrücke zwischen altem und neuem Staatsgrundgesetz.

Mit dem Grundgesetz sind wir bisher doch nicht schlecht gefahren.

Richtig. Aber eine neue Verfassung heißt ja nicht, dass man alles anders machen muss. Es wäre sogar möglich, die gleiche Verfassung bloß um eine Passage zu ergänzen, die den europäischen Bundesstaat als Ziel festschreibt. Das halte ich aber politisch nicht unbedingt für die wahrscheinlichste Variante.

Denn ist die Büchse der Pandora erst mal geöffnet, kann man viel Schabernack mit der Verfassung treiben.

Warum verbindet man in Deutschland das Aktivwerden des Volkes immer mit Horrorszenarien? Wir haben inzwischen mehr als 60 Jahre ununterbrochene Demokratieerfahrung, da kann man sich zutrauen, eine neue Verfassung zu entwickeln. Zudem ist das Grundgesetz keineswegs perfekt.

Die Streitpunkte bei der Bankenaufsicht
Wer haftet bei Bank-Pleiten?Die EU-Kommission verlangt, dass nicht mehr die Steuerzahler, sondern die Banken selbst für ihre Risiken haften - und zwar grenzüberschreitend. Deshalb will die EU-Behörde die nationalen Fonds für Bankenabwicklung und Einlagensicherung dazu zwingen, sich im Notfall auf europäischer Ebene gegenseitig Geld zu leihen. Und das ist nur der erste Schritt. Quelle: dapd
Mittelfristig will die Kommission die nationalen Fonds auf EU-Ebene zusammenlegen. Frankreich unterstützt das, aber Deutschland winkt ab. Einer gemeinschaftlichen Haftung für Spareinlagen könne bei diesem Gipfel noch nicht zugestimmt werden, heißt es in Berlin. Quelle: dapd
Wo wird die zentrale EU-Bankenaufsicht angesiedelt?Die EU-Regierungschefs waren sich schnell einig: Die EZB soll die Bankenaufsicht in der Euro-Zone übernehmen. Doch die EU-Kommission hielt dagegen. Eigentlich wollte die Behörde die European Banking Authority (Eba) in London zu einer EU-Bankenaufsicht ausbauen. Quelle: dpa
Dass dieser Plan nicht durchsetzbar ist, hat Binnenmarktkommissar Michel Barnier rasch eingesehen. Er hielt aber nichts davon, die Bankenaufsicht voll in die EZB zu integrieren. Die Aufsicht müsse unabhängig von der Notenbank agieren, denn sonst komme es zu Zielkonflikten mit der Geldpolitik, sagte der Kommissar. Quelle: Reuters
Auf welcher Rechtsgrundlage operiert die EU-Bankenaufsicht?Die Frage steht im direkten Zusammenhang zur vorherigen. Die EZB will sich auf Basis von Artikel 127, Absatz 6 des EU-Vertrags ein Mandat für die Bankenaufsicht geben lassen. Dem Artikel zufolge können die Regierungschefs der EZB „einstimmig (...) besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute (...) übertragen“. Quelle: dapd
Damit wäre die Bankenaufsicht dem Einfluss der EU-Kommission entzogen. Deshalb verlangt die Kommission eine andere Rechtsgrundlage im EU-Vertrag. Quelle: dpa
Wie viele Staaten würden sich an einer Bankenunion beteiligen?Die vier Präsidenten der wichtigsten europäischen Institutionen, Herman Van Rompuy (Rat), José Manuel Barroso (Kommission), Jean-Claude Juncker (Euro-Gruppe) und Mario Draghi (EZB), sprechen in ihrem Reformpapier nur von der Euro-Zone. Der Teilnehmerkreis könnte aber über die 17 Euro-Staaten hinausgehen. Quelle: Reuters

Sie rühren am einzig Heiligen, was dem säkularen Deutschen nach dem Verlust der Deutschen Bundesbank geblieben ist.

Dreier: Der Idee einer Sakralisierung der Verfassung stehe ich in der Tat skeptisch gegenüber. Mir ist der nüchterne Blick auf Gesetze als Menschenwerk sympathischer, Grundgesetze eingeschlossen. Schauen Sie sich doch nur die Ewigkeitsgarantie in Artikel 79 an: Da wird der Bundesstaat auf alle Zeiten vor Veränderung geschützt. Es leuchtet doch wirklich nicht ein, den Deutschen zu verbieten, einen Zentralstaat zu schaffen, selbst wenn das Volk, alle Abgeordneten und Länder es wollten.

In Karlsruhe klagen 12.000 Menschen gegen den ESM. Das zeigt, dass viele nichts mehr fürchten als eine neue Verfassung. Im Grundgesetz suchen sie Schutz.

Diese Menschen fürchten gewiss vieles, aber weniger eine neue Verfassung, an deren Schaffung sie beteiligt werden. Was sie einzuklagen versuchen, ist doch: Solange das Grundgesetz gilt, sind so weitgehende Maßnahmen wie der ESM nicht zulässig, weil das die Kernkompetenzen des Staates zu stark beschneidet. Dafür bräuchten wir eine neue Verfassung, die Deutschland zu einem Gliedstaat der „Vereinigten Staaten von Europa“ machen würde. Dann wäre die große Frage, ob es dafür in Deutschland eine Mehrheit gäbe. Ich glaube das eher nicht.

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