Staatswirtschaft Die Koalition ist auf Geisterfahrt

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Hat sich die soziale Marktwirtschaft bewährt? Quelle: Bankenverband

Liberalisierung wird mit Regulierung gekontert. Gegenwehr der Freidemokraten erwartet von der Leyen längst nicht mehr. Es sei erfreulich, dass beim Koalitionspartner nun "starke Kräfte da sind, die auch das soziale Profil der Liberalen verbreitern möchten", so die Ministerin. FDP-Generalsekretär Christian Lindner räumt im Interview mit der WirtschaftsWoche ein: "Manche in der FDP diskutieren, ob unter bestimmten Umständen regionale Lohnuntergrenzen krassen Missbrauch ausschließen könnten".

Derweil hat Lindners Partei zugestimmt, sogar in der Zeitarbeitsbranche Mindestlöhne einzuführen. Ausgerechnet der Sektor, der wie kein anderer neue Jobs geschaffen hat und dank hoher Flexibilität half, die Wirtschaftskrise zu überwinden. An der Knebelung der Zeitarbeit haben auch die Arbeitgeberverbände Interesse, um sich so neue Billigkonkurrenz von Leib zu halten. Fehlt nur noch das Schild: "Geschlossene Gesellschaft!"

Der Bundesadler als Glucke

Das trifft den Zeitgeist der Deutschen. Seit Jahren registrieren Meinungsforscher nur noch eine knappe Mehrheit für die soziale Marktwirtschaft. Fanden Anfang der Neunzigerjahre noch fast drei Viertel der Deutschen die soziale Marktwirtschaft gut, so sank die Zustimmung bis 2010 unter 50 Prozent. Erst mit der wirtschaftlichen Erholung stieg die Zustimmung zum Wirtschaftssystem wieder an (siehe Grafik).

Schlimmer wird es jedoch im Konkreten: "Mehr Markt" wünschten sich in den vergangenen vier Jahren nur noch 23 Prozent der Bundesbürger, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Ipos; zwischen 2002 und 2006 waren es fast doppelt so viele. Dagegen stieg die Zahl der Bürger, die für "mehr soziale Absicherung" plädieren, kontinuierlich an: von 25 Prozent im Jahr 1994 bis auf 57 Prozent im vergangenen Jahr. "In den Neunzigerjahren hatte der Begriff Freiheit einen hohen Stellenwert", erinnert Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid: "Heute wird ein starker Staat postuliert, damit er mich unterstützen kann."

Mit Grausen schaut Detmar Doering auf diese Entwicklung. "Der Trend zur Staatswirtschaft wird in Deutschland stärker, weil er auf keinen Widerstand trifft", klagt der Leiter des Liberalen Instituts der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung. Immerhin hofft Doering, dass es bald wieder zu einem Ausschlag des Pendels in die andere Richtung kommen könnte, denn: "Für die etatistischen Weichenstellungen wird es ordentliche Rechnungen geben – in der Energiepolitik, bei der Gebäudesanierung, in der Sozialpolitik." Wenn die "Verarmung von oben die Mittelschicht bedrängt, wird die Politik hoffentlich auf diese Stimmung richtig reagieren".

Dabei hatten sich die Bundesbürger schon 2009 mehr denn je freiheitliche Politik gewünscht. Mit 14,6 Prozent erreichte die FDP bei der Bundestagswahl ihr bestes Ergebnis aller Zeiten. Mehr Rückendeckung für liberale Politik gab es nie. Und auch die verheerenden Wahlschlappen in diesem Jahr lassen sich als liberales Votum deuten – gegen eine prinzipienlose FDP. Die von Parteichef Guido Westerwelle vor anderthalb Jahren verkündete "geistig-politische Zeitenwende" zu mehr Freiheit und Selbstverantwortung erwies sich für Liberale als Rolle rückwärts. Die neue Führungsriege um Rösler und Lindner sucht ihr Heil nun in einem "mitfühlenden Liberalismus". Was dies konkret bedeutend, kann bislang niemand so richtig erklären. Doch soziale Attribute wecken bei Marktwirtschaftlern immer Misstrauen.

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