Städtetest 2010 Warum Erlangen Deutschlands lebenswerteste Stadt ist

Wohlstand, Jobs, Zukunftsperspektiven: Die große Exklusivstudie der WirtschaftsWoche zeigt, wo es sich in Deutschland am besten leben, arbeiten und investieren lässt. Überraschendes Ergebnis: Dynamische Mittelstädte laufen den Metropolen den Rang ab.

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Siegfried Balleis, Oberbürgermeister von Erlangen Quelle: Robert Brembeck für WirtschaftsWoche

Vor einigen Monaten wollte die Kommunalverwaltung von Erlangen wissen, worüber sich die 105.000 Einwohner des mittelfränkischen Städtchens denn wohl die meisten Sorgen machen. Die hauseigenen Statistiker verschickten einen Fragebogen, werteten die Antworten aus – und kamen zu erstaunlichen Erkenntnissen. Gerade mal drei Prozent der Erlanger betrachten die wirtschaftliche Lage und Arbeitsmarktsituation als besonderes Problem. Soziale Verwerfungen vor Ort registriert nur ein mikroskopischer Anteil von einem Prozent der Befragten. Die existenziellen Sorgen der Mittelfranken sind stattdessen: verstopfte Straßen und die Parkplatznot in der City.

Das Votum der Erlanger wirft ein bezeichnendes Licht auf die Hugenottenstadt vor den Toren Nürnbergs – und es kommt nicht vor ungefähr. Die "preußischste Stadt Bayerns", wie sie Oberbürgermeister Siegfried Balleis (CSU) gerne nennt, vereint wie keine andere deutsche Kommune ökonomische Stärke mit sozialer Stabilität und hohem Zukunftspotenzial. Dies zeigt der große Städtetest von WirtschaftsWoche, Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und IW Consult Köln. In dem jährlichen Ranking, dem größten seiner Art, hat es das vergleichsweise kleine Erlangen 2010 aufs Siegertreppchen geschafft, gefolgt von Ingolstadt, Ulm, München und Aschaffenburg. Beste ostdeutsche Stadt ist Jena auf Rang 33. Vertreter des bevölkerungsreichsten Landes Nordrhein-Westfalen tauchen im Ranking erstmals auf den Rängen 18 (Münster) und 19 (Düsseldorf) auf. Die gesamtdeutsche rote Laterne geht an Gelsenkirchen.

100 einwohnerstärkste kreisfreie Städte im Test

Die Exklusivstudie umfasst die 100 einwohnerstärksten kreisfreien Städte und ist der mit Abstand umfangreichste Leistungs-Check für Kommunen in Deutschland. Insgesamt mussten sich die Städte in 92 Disziplinen messen lassen. Wir wollten zum Beispiel wissen: Wo gibt es die meisten Jobs und Ausbildungsplätze? Wo findet die Wirtschaft gute Standortbedingungen vor – und wo nicht? Wo wachsen Bevölkerung, Wohlstand und Produktivität? Wo arbeitet die Verwaltung wirtschaftsnah und serviceorientiert? Und welche Städte punkten mit weichen Faktoren wie hoher Ärzte- und Kita-dichte oder niedriger Kriminalität?

Das Gesamtranking setzt sich aus zwei Teilbereichen zusammen. Die sogenannte Niveauwertung vergleicht die aktuellen Ist-Werte der Indikatoren. In der Dynamiktabelle hingegen spiegelt sich die Veränderung der Daten seit 2004 wider – was auch Städten mit schwieriger Ausgangslage die Chance gibt, positiv auf sich aufmerksam zu machen. Auch in Alltagsfragen verschafft der Städtetest neue Einblicke: Wer hätte zum Beispiel gewusst, dass die Düsseldorfer den bundesweit höchsten Wasserverbrauch haben (187 Liter pro Kopf und Tag), wohingegen die sparsamen Bürger von Cottbus mit 85 Litern auskommen? Oder dass die Augsburger Polizei die höchste Aufklärungsquote von Straftaten vorweisen kann (74,3 Prozent), während es Schlusslicht Münster nur auf 44,4 Prozent bringt?

Siemens-Verwaltungsgebäude in Quelle: AP

Und warum schafft es ausgerechnet Erlangen in der Gesamtwertung an die Spitze, dieser etwas unscheinbare und streng rechtwinklig geplante Ort der "freundlichen Langeweile", wie es der Kunsthistoriker Georg Dehio einmal wenig charmant formuliert hat? Dass die Bürger ihren Verwaltungskram mit der Stadt zentral im Erdgeschoss des Rathauses abwickeln können und für Warterei und Erledigung laut OB Balleis im Schnitt "nicht länger als acht Minuten" einplanen müssen, mag auf guten Kundenservice hindeuten. Wichtiger aber sind die ökonomischen Fundamentaldaten: Die Arbeitslosenquote liegt bei nur rund vier Prozent; Ökonomen nennen so etwas Vollbeschäftigung. Auf 100 Einwohner kommen in Erlangen nur rund drei Hartz-IV-Empfänger, so wenig wie in keiner anderen deutschen Stadt. Außerdem gibt es in der Stadt an der Regnitz die höchste Ingenieurdichte, den größten Anteil an hoch Qualifizierten unter den Beschäftigten und die geringste Überschuldung der Privathaushalte.

Himbeerpalast sorgt für Jobs

Wer wissen will, wie die protestantisch-nüchterne Universitätsstadt tickt, sollte vom Bahnhof über die Calvinstraße zur Hugenottenkirche schlendern, einen Baumkuchen im Café Mengin am Schlossplatz verspeisen – und spätestens dann nach Süden in die Werner-von-Siemens-Straße wandern. Entlang der vier- bis sechsspurigen Fahrbahn reihen sich Produktionsstätten und Verwaltungsgebäude des mit Abstand größten Arbeitgebers der Stadt; hier steht auch der "Himbeerpalast", wie die Erlanger das in der Nachkriegszeit hochgezogene, rötlich-braune Hauptgebäude der Siemens AG nennen.

Siemensianer sind einflussreiche Community

Keine Frage: Erlangen ist Siemensstadt. Von hier aus wickelt der Elektrokonzern rund 90 Prozent seiner globalen Geschäfte ab, etwa jeder vierte Arbeitnehmer in der Stadt bezieht sein Gehalt von Siemens. Auch im sozialen, sportlichen und kulturellen Leben spielt der Konzern eine gewichtige Rolle. Die Siemensianer bilden – auch nach der Arbeit – eine einflussreiche Community. Dass es mit der Erweiterung des Gewerbegebiets im benachbarten Tennenlohe nicht recht vorangeht, liege auch am Widerstand von lärmempfindlichen Siemens-Pensionären in der Nachbarschaft, munkelt man in der Wirtschaft.

Siemens hat Erlangen großen Wohlstand gebracht – aber auch den Vorwurf einer ökonomischen Monostruktur. Wie nachhaltig ist ein Aufschwung, wenn Wohl und Wehe von einem einzigen Unternehmen abhängen? OB Balleis beeindruckt diese Frage wenig. „Der Diversifizierungsgrad von Siemens ist so hoch, dass sich Probleme in einem Geschäftsfeld durch andere Unternehmensteile abfedern lassen“, sagt er. Mit Ingolstadt (und Audi) oder Wolfsburg (und VW) sei seine Stadt daher nicht zu vergleichen.

Da ist durchaus etwas dran. Im Windschatten von Siemens hat sich Erlangen zu einem Zentrum der Medizintechnik entwickelt. Mehr als 100 mittelständische Unternehmen tummeln sich in diesem Wachstumssektor, von den 96.000 Arbeitsplätzen in der Stadt ist nahezu jeder vierte im Bereich Medizin und Gesundheit angesiedelt. Das Universitätsklinikum nahm im September 2009 den schnellsten Computertomografen der Welt in Betrieb, in der Gehirnchirurgie zählt Erlangen mit zur Weltspitze.

Und die Dynamik im Med-Tech-Bereich ist ungebrochen: Das eng mit der Universität kooperierende Gründerzentrum für Medizintechnik- und Pharmaunternehmen (IZMP) "ist komplett ausgebucht", berichtet Jörg Trinkwalter, Mitglied der Geschäftsleitung. Gleich mehrere Startups stehen auf der Warteliste.

Region wird zum Medical Valley

Wichtig auch: Beim mit 40 Millionen Euro dotierten Spitzencluster-Wettbewerb des Bundesforschungsministeriums setzte sich Erlangen zusammen mit Nürnberg und anderen Städten der Region mit dem Projekt Medical Valley durch. Ein Netzwerk von Unternehmen und Forschungseinrichtungen will nun neue Technologien, etwa im Bereich der ´"bildgebenden Diagnostik", vorantreiben – und langfristig eine "Modellregion für optimale Gesundheitsversorgung" schaffen.

Der ökonomische Erfolg hat indes auch seine Kehrseiten: Das breite Jobangebot in Erlangen erzeugt einen massiven Pendlerstrom aus dem Umland, der Straßen und Personennahverkehr überfordert. Vor allem auf der Ost-West-Verbindung geht es zur Stoßzeit oft nur im Schneckentempo voran. Auch die Wohnungsmieten sind für eine Stadt, die immerhin 27.000 Studenten zählt, erstaunlich hoch.

Ulm gewinnt die Bronzemedaille

Erlangen ist nicht die einzige deutsche Mittelstadt mit ökonomisch ausgezeichneten Perspektiven. Auch andere kommunale Tiger punkten bei Wachstum und Jobs, bei Wohlstandsentwicklung und Standortqualität. Beispiel Ingolstadt: Der Vizemeister im Ranking kommt im Vergleich zur Weiße-Kittel-Stadt Erlangen eher im Blaumann daher. Geprägt von Audi und Automobil-Zulieferindustrie weist die Stadt an der Donau mit die bundesweit höchste Jobdichte auf; seit 2004 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 8,5 Prozent gestiegen.

Beispiel Ulm: Die Stadt holte beim WirtschaftsWoche-Städtetest die Bronzemedaille, vor allem wegen ihrer gesunden Wirtschafts- und Sozialstruktur und einer guten Standortqualität. In und um und um Ulm herum produzieren Unternehmen wie Daimler, EADS, Deutz und Merckle; Industriekonzerne, die täglich Tausende Tonnen Güter auf Lastwagen und Bahnwaggons verladen. Oberbürgermeister Ivo Gönner (SPD) will seine Stadt daher "zum Mobilitätszentrum der Region" entwickeln. Jüngst eröffnete die Stadt mit der Bahn einen neuen Container-Terminal im Norden der Stadt. Die Stadt kauft zudem jedes Jahr für 20 bis 25 Millionen Euro Grundstücke und Immobilien an und stellt sie Investoren günstig zur Verfügung. "Aktive Industriepolitik" nennt Gönner das – eine Strategie, die seiner Ansicht nach wesentlich dazu beigetragen hat,  dass Ulm heute zu den attraktivsten Wirtschaftsräumen der Republik zählt.

Ivo Gönner, Oberbürgermeister von Ulm

Viele mittelgroße Städte an der Peripherie gewinnen auch deshalb an Attraktivität, weil sie attraktive Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und deren Beschäftigte bieten können, gleichzeitig aber nicht die sozialen Probleme der Großstädte -haben – oder nur in geringerem Ausmaß. Gleichzeitig profitieren viele Umlandkommunen von der ökonomischen und kulturellen Sogwirkung der Ballungszentren; zumindest ein Stück weit ist der wirtschaftliche Erfolg mancherorts ein geografisch bedingter "windfall profit".

Der Städtetest wirft zudem ein Schlaglicht auf die regionale Wirtschaftsstruktur und die gefährliche Schere, die sich zwischen boomenden und darbenden Kommunen auftut. Insgesamt neun der Top-Ten-Städte kommen aus Bayern oder Baden-Württemberg, und selbst die Kandidaten aus strukturschwächeren Gebieten der beiden Südstaaten liegen im Ranking im vorderen Bereich. Auf den Plätzen 51 bis 100 findet sich hingegen keine einzige Stadt aus Bayern oder dem Ländle.

Regionen München und Stuttgart vorne

Kein Wunder, dass im erstmals von WirtschaftsWoche, INSM und IW Consult durchgeführten Sonderranking der "City-Regionen", ein Vergleich der Arbeitsmarkt- und Wohlstandssituation deutscher Großräume, die Regionen München und Stuttgart vorne liegen. Auch auf den folgenden Rängen bleibt mit Frankfurt, Karlsruhe und Nürnberg die Zahl der Vertreter aus Nord, Ost und West ziemlich übersichtlich.

Das alles ist mehr als eine ökonomische Momentaufnahme und wirft ein Schlaglicht auf die Zukunftsperspektiven der Kommunen. "Der Städtetest spiegelt das ökonomische Kräfteverhältnis der Städte im Inland wider, zeigt aber auch, wie es um deren internationale Konkurrenzfähigkeit bestellt ist", sagt IW-Consult-Ökonom Michael Bahrke. Im Zeitalter von Globalisierung, mobilen Unternehmen und Arbeitskräften spiele sich der Wettbewerb nicht mehr nur auf der Ebene der Nationalstaaten ab, sondern verlagere sich immer stärker auf die Städte und Regionen. Bahrke: "Mehr denn je müssen sie um Investoren und Arbeitskräfte werben und ein attraktives wirtschaftliches, soziales und kulturelles Umfeld bieten."

Stralsund: Mieses Niveau, große Dynamik

Dabei können selbst Städte punkten, die von ganz unten kommen. Extremstes Beispiel ist Stralsund. Dessen Wirtschaftsdaten sind absolut gesehen immer noch miserabel – Rang 100 im Niveau-Ranking. Doch langsam, aber sicher geht es auch an der Ostsee nach oben: Im Dynamik-Ranking schafft die Stadt Rang 1, vor allem weil sich Arbeitsmarktlage, Wirtschafts-und Sozialstruktur verbessern.

Beim Werben um Investoren sollten gerade schwächere Städte aber auch auf ihre Gebühren und Steuern schauen. Der Spitzenwert bei den Gewerbesteuerhebesätzen etwa liegt bei 490 Prozent, erhoben von vier Städten. Dass München dazu gehört, verwundert nicht, wohl aber die anderen drei Rekord-Kassierer: Bottrop, Duisburg und Oberhausen.

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