Standort Chemnitz: Wiederaufstieg einer Industriestadt

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Der Rest ist Stoff für Wahlkämpfe und für stadtbürgerliche Zielkonflikte: Der Boom braucht Infrastruktur – die Bürger wollen Verkehrsberuhigung. Alte aufgelassene Fabriken finden keine neuen Nutzer – der Denkmalschutz will den Abriss verhindern. Die Nostalgiechemnitzer rufen nach Entschleunigung – die Stadtmodernisierer wollen Angebote für junge Leute machen, damit in Chemnitz auch am Abend rund um den Nischel die Post abgeht. Der Nischel, ein sieben Meter hoher Karl-Marx-Kopf, ist das heimliche Wahrzeichen der Stadt, neuerdings hinter einem Kubus aus hellen Planen künstlerisch verhüllt.

Wie viele andere Ostregionen und -städte ist auch Chemnitz seit der Wende geschrumpft. Mindestens 70.000 Bürger haben eine Stadt verlassen, die historisch immer auf Wachstum und Ausdehnung programmiert war. Heute geistert auch hier der Euphemismus Rückbau durch die Diskurse und bringt Bürger, Stadtplaner, Denkmalpfleger und Wohnungswirtschaftler teils zur Ratlosigkeit, teils gegeneinander auf, teils weckt er ihre Kreativität. Was tun? Entlang vieler Zufahrtsstraßen, die ins architektonisch smarte Zentrum führen, sind noch unansehnliche Stadtbrachen, Gammelgrundstücke, Leerstände versammelt – kein sonderlich einladendes Entree in die „Stadt der Moderne“, wie sich Chemnitz neuerdings mit einigem Stolz nennt.

Die Innenstadt dagegen, deren Einkaufsmeilen und -passagen Architekten wie Helmut Jahn, Hans Kollhof und Christoph Ingenhoven geplant haben, wurde sogar mit einem Architekturpreis gekrönt. Ende vergangenen Jahres eröffnete im restaurierten Sparkassengebäude die „Sammlung Gunzenhausen“, eine bedeutende Kollektion von Kunst der klassischen Moderne. Die Nation nahm mit Erstaunen Notiz.

Auch die Textilindustrie verzeichnet Gewinne

Denn allzulange ist das noch nicht her, dass Chemnitz als „Aschenputtel Sachsens“ belächelt wurde, das im Schatten seiner aufgehübschten Schwestern Leipzig und Dresden vor sich hin darbte und im Stadtbild Rückbaulöcher produzierte wie ein altes Weib Zahnlücken. Das Märchen ging gut aus – für Aschenputtel und für Chemnitz. Heute heißt es hier wieder selbstbewusst: „In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig verkauft und in Dresden gefeiert“. Dazu passt auch die Meldung des Statistischen Landesamtes, dass die Chemnitzer das höchste Pro-Kopf-Einkommen (2006: 15.765 Euro) haben.

Sogar die Textilindustrie, einst eine Domäne des Wirtschaftsraumes zwischen Leipzig und Zwickau, hat wieder ein bisschen Garn aufgenommen, wie ein Besuch bei Karl-Josef Gries zeigt, dem Geschäftsführer der Maximo Strickmoden. In zweckmodernen Fabrikationshallen nähen bis zu 70 gelernte Schneiderinnen im Akkord hochwertige Baby- und Kindermützen zusammen, die in den besten Regalen der Republik gelistet sind. Den Ritterschlag der Branche hat Maximo, seit das Berliner KaDeWe die Strickwaren aus Chemnitz feilbietet – aber auch das Moskauer Gum. „Russland und die Ukraine sind stark im Kommen“, sagt Karl-Josef Gries. Die wohlhabenden Mütter des Ostbooms, gleichermaßen luxus- wie kindernärrisch, sorgen dafür, dass aus Chemnitz ein Exportstandort für weiche, feine und scheinbar nahtlose Kindermützen geworden ist, die mit irgendwelcher Billigware aus Fernost partout nicht verglichen werden wollen.

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