Standort Chemnitz: Wiederaufstieg einer Industriestadt

Rund um den Nischel wird in Chemnitz das Märchen vom Aschenputtel neu erzählt – vom Wiederaufstieg einer traditionsreichen Industriestadt.

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Barbara Ludwig, die OB von Chemnitz Quelle: Jürgen Lösel für WirtschaftsWoche

Wer hätte gedacht, dass sich die Wirtschaftsgeschichte der DDR rund 20 Jahre nach der Wende wiederholt — und zwar nicht „als Farce“ (Karl Marx), sondern als kapitalistische Erfolgsstory? Wie das kommt, wird in Chemnitz so erzählt:

Zu DDR-Zeiten hatten die volkseigenen Betriebe in Karl-Marx-Stadt drei Probleme: Erstens: Keine Leute. Zweitens: Kein Material. Drittens: Die Hallen sind zu klein. Und heute?

Haben viele Unternehmen in Chemnitz mit den gleichen Problemen zu kämpfen, sagt die Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig und lächelt dazu in sparsamer Ironie. Erstens: Fachkräftemangel. Zweitens: Die Zulieferindustrie kommt nicht nach. Drittens: Die Hallen sind zu klein.

Die Schwierigkeiten von einst waren der Anfang vom Ende sozialistischer Kommandowirtschaft. Die Erschwernisse von heute signalisieren das genaue Gegenteil: eine nie gekannte Auftragslage, hochzufriedene Kunden, Top-Qualität, weltweite Nachfrage, Produktivität. Wer’s nicht glaubt, sollte sich in die Zwickauer Straße begeben. Dort weiß die Geschäftsführerin der Niles-Simmons Industrieanlagen, Micaela Simmons, von Auftragsbüchern zu berichten, „die bis 2010 voll bis über den Rand“ seien. „das gab’s bei uns noch nie“.

Dies habe intern zur Folge, sagt die schlanke, selbstbewusste Managerin, dass bei Niles-Simmons Kapazitäten nicht so schnell aufgebaut werden könnten, wie sie benötigt werden. Mitunter fehlen qualifizierte Fachkräfte, obwohl Niles-Simmons nach Kräften ausbildet. „Das größte Problem sind Lieferterminschwächen von Zulieferern. Luxusprobleme.“ Wie an deren Lösungen gearbeitet wird, das ist durch das Bürofenster der diplomierten Ökonomin Schönherr gut zu betrachten.

Dort unten, wo jetzt eine Baugrube ausgebaggert wird, soll bis Mitte November eine zusätzliche Fertigungshalle entstehen und damit dringend benötigter Platz für den Bau von Spezialwerkzeugmaschinen, die in der Luft- und Raumfahrttechnik gebraucht werden, in der Automobilindustrie, in der Maschinen-Industrie und im Werkzeug- und Formenbau. Die Chemnitzer Niles-Simmons stellt neben Maschinen auch komplette „Turn-Key“-Anlagen her, die auf die Trends der Automobilindustrie zugeschnitten sind. Und die verheißen nun mal Flexibilität und Variantenreichtum bis zur Unübersichtlichkeit, zum Beispiel bei automobilen Kurbelwellen, für deren Fertigung Niles-Simmons Werkzeugmaschinen baut.

Unkomplizierte Bürokratie erleichterte den Start

Die Sache mit der Baugrube wäre vielleicht nicht der Rede wert, wäre sie nicht so exemplarisch dafür, dass die Wege der Bürokratie in Chemnitz überraschend kurz, schnell und hilfreich sein können. Drei von vier Unternehmen loben ihre Stadt – Ergebnis einer WirtschaftsWoche-Erhebung zur Wirtschaftsfreundlichkeit 2007, in der Chemnitz bundesweit Spitze war.

Ein fast beiläufiges Gespräch zwischen dem Inhaber von Niles-Simmons, dem Deutsch-Amerikaner Hans J. Naumann, und der Oberbürgermeisterin genügte, um das Niles-Simmons-Vorhaben zu starten. Die Baugenehmigung wurde innerhalb weniger Wochen erteilt, auch unter beharrlichem Dränge(l)n der OB Barbara Ludwig, einer Sozialdemokratin, die vor zwei Jahren in das Amt gewählt wurde. Sie steht einem 243.000-Einwohner-Gemeinwesen vor, das zu den zehn wachstumsstärksten Städten Deutschlands gehört und heute an eine Industrietradition anknüpft, die den Aufstieg zu Ende des 19. Jahrhunderts begründete. Chemnitz ist wieder ein wettbewerbsfähiger Technologiestandort. Die wichtigsten Branchen – Automobilzulieferindustrie sowie Maschinen- und Anlagenbau – wuchsen im vergangenen Jahr mit 11,9 Prozent überdurchschnittlich (Deutschland: 7,6 Prozent).

„Wir wissen“, sagt OB Ludwig heute, „dass die Wirtschaft das Fundament ist, auf dem Chemnitz nach vorne kommt.“ Hier sei die Herzkammer der industriellen Revolution gewesen, hier habe sich der Maschinen- und Werkzeugmaschinenbau eine Schlüsselkompetenz erworben, von der „wir bis heute profitieren“.

Wenn sie die dritte Person Plural bemüht, dann wohl weniger aus majestätischen Gründen, sondern auch um den Konsens der Chemnitzer Bürger und ihrer Mandatsträger zu demonstrieren. Sie lobt die sachorientierte Kommunalpolitik in der Stadt, wo Entscheidungen, zumal wenn es um Wirtschaftsfragen geht, zu 90 Prozent im Einvernehmen getroffen werden.

Der Rest ist Stoff für Wahlkämpfe und für stadtbürgerliche Zielkonflikte: Der Boom braucht Infrastruktur – die Bürger wollen Verkehrsberuhigung. Alte aufgelassene Fabriken finden keine neuen Nutzer – der Denkmalschutz will den Abriss verhindern. Die Nostalgiechemnitzer rufen nach Entschleunigung – die Stadtmodernisierer wollen Angebote für junge Leute machen, damit in Chemnitz auch am Abend rund um den Nischel die Post abgeht. Der Nischel, ein sieben Meter hoher Karl-Marx-Kopf, ist das heimliche Wahrzeichen der Stadt, neuerdings hinter einem Kubus aus hellen Planen künstlerisch verhüllt.

Wie viele andere Ostregionen und -städte ist auch Chemnitz seit der Wende geschrumpft. Mindestens 70.000 Bürger haben eine Stadt verlassen, die historisch immer auf Wachstum und Ausdehnung programmiert war. Heute geistert auch hier der Euphemismus Rückbau durch die Diskurse und bringt Bürger, Stadtplaner, Denkmalpfleger und Wohnungswirtschaftler teils zur Ratlosigkeit, teils gegeneinander auf, teils weckt er ihre Kreativität. Was tun? Entlang vieler Zufahrtsstraßen, die ins architektonisch smarte Zentrum führen, sind noch unansehnliche Stadtbrachen, Gammelgrundstücke, Leerstände versammelt – kein sonderlich einladendes Entree in die „Stadt der Moderne“, wie sich Chemnitz neuerdings mit einigem Stolz nennt.

Die Innenstadt dagegen, deren Einkaufsmeilen und -passagen Architekten wie Helmut Jahn, Hans Kollhof und Christoph Ingenhoven geplant haben, wurde sogar mit einem Architekturpreis gekrönt. Ende vergangenen Jahres eröffnete im restaurierten Sparkassengebäude die „Sammlung Gunzenhausen“, eine bedeutende Kollektion von Kunst der klassischen Moderne. Die Nation nahm mit Erstaunen Notiz.

Auch die Textilindustrie verzeichnet Gewinne

Denn allzulange ist das noch nicht her, dass Chemnitz als „Aschenputtel Sachsens“ belächelt wurde, das im Schatten seiner aufgehübschten Schwestern Leipzig und Dresden vor sich hin darbte und im Stadtbild Rückbaulöcher produzierte wie ein altes Weib Zahnlücken. Das Märchen ging gut aus – für Aschenputtel und für Chemnitz. Heute heißt es hier wieder selbstbewusst: „In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig verkauft und in Dresden gefeiert“. Dazu passt auch die Meldung des Statistischen Landesamtes, dass die Chemnitzer das höchste Pro-Kopf-Einkommen (2006: 15.765 Euro) haben.

Sogar die Textilindustrie, einst eine Domäne des Wirtschaftsraumes zwischen Leipzig und Zwickau, hat wieder ein bisschen Garn aufgenommen, wie ein Besuch bei Karl-Josef Gries zeigt, dem Geschäftsführer der Maximo Strickmoden. In zweckmodernen Fabrikationshallen nähen bis zu 70 gelernte Schneiderinnen im Akkord hochwertige Baby- und Kindermützen zusammen, die in den besten Regalen der Republik gelistet sind. Den Ritterschlag der Branche hat Maximo, seit das Berliner KaDeWe die Strickwaren aus Chemnitz feilbietet – aber auch das Moskauer Gum. „Russland und die Ukraine sind stark im Kommen“, sagt Karl-Josef Gries. Die wohlhabenden Mütter des Ostbooms, gleichermaßen luxus- wie kindernärrisch, sorgen dafür, dass aus Chemnitz ein Exportstandort für weiche, feine und scheinbar nahtlose Kindermützen geworden ist, die mit irgendwelcher Billigware aus Fernost partout nicht verglichen werden wollen.

Um Qualität und Innovationskraft zu sichern, bedient sich Maximo-Chef Gries des Sächsischen Textilforschungsinstituts, und er nimmt damit an einem Trend teil, der den Boom beschleunigt hat. Industrie, TU Chemnitz und das Fraunhofer-Institut arbeiten praxisorientiert zusammen.

Seine Entwicklung vom Biest zur Schönen hat Chemnitz zunächst einem Umstand zu verdanken, für den es wenig kann – der globalisierten Dynamik, die ihre Schwungkraft aus den Boom-Ökonomien Chinas, Indiens, des arabischen Raums und Russlands bezieht. Was dort produziert und geliefert wird, ist immer noch auf Industrieanlagen angewiesen, die aus dem Westen kommen, vorzugsweise von all den renommierten Anlagenbauern des Qualitätsstandorts Deutschland. Für diese Lindes und Lurgis wiederum schweißt unter anderem die Harald Liebers Behälter- und Apparatebau Wärmetauscher, Tanks und Lagerbehälter zusammen, Rührwerks- und Druckbehälter, die von der Alt-Chemnitzer Schulstraße in die ganze Welt gehen.

„Schön wär’s ja“, grinst der grau-struppige Firmeninhaber Harald Liebers im Polohemd und schwenkt die Arme Richtung Norden, „wenn die Chemnitz schiffbar wäre.“ Um den Insider-Joke zu verstehen, muss man wissen, dass die Chemnitz der Stadt zwar den Namen gegeben hat, aber oft nur ein Rinnsal ist, über das man an ausgedörrten Sommertagen trockenen Fußes hüpfen kann. Abgesehen von der Unschiffbarkeit der Chemnitz ist der gelernte Schweißingenieur und Werksleiter Harald Liebers mit sich und der Auftragslage seiner Firma derzeit hochzufrieden.

Wie viele Unternehmer und Unternehmen profitiert auch Harald Liebers von dieser einzigartigen Melange aus Modernität und Historizität, aus Globalisierungsgebot und regionaler Verwurzelung, die den Produktionsstandort kennzeichnet. Chemnitzer Unternehmen beliefern zwar die ganze Welt mit Anlagen und Maschinen, mit Autoteilen und Mikrosystemtechnik – aber sie könnten die Globalisierung vielleicht nur halb so gut stemmen, wenn sie in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht so gut miteinander vernetzt wären. Kurze Wege, bewährte Partnerschaften. Man kennt sich.

Industriestadt mit Tradition

Handwerk und High Tech: In der historischen Tradition der Industriestadt Chemnitz sind Geschicklichkeit und Handwerkskönnen der 90 Fachkräfte begründet, die Harald Liebers beschäftigt. Viele sind ehemalige „Germanen“ wie der Firmeninhaber selbst – Schweißer und Ingenieure, die zu DDR-Zeiten bei der VEB Apparate- und Anlagenbau Germania gearbeitet haben. Bis heute ist die Fabrikation in den alten Hallen der Germania, aufragende Konstruktionen, vielleicht ein wenig zu hochragend für die meisten Druckbehälter, die heute gebraucht werden.

Während Liebers händeschüttelnd und schulterklopfend durch den Betrieb geht, weicht er den sprühenden Funken aus, die den vermummten Schweißern unter beträchtlichem Lärm von der Schweißnaht fliegen. Die Firma hat er vor genau zehn Jahren aus der Insolvenz des Vorgängerunternehmens übernommen, aus den 200.000 Mark Schulden sind 2,5 Millionen Euro Verbindlichkeiten geworden, die durch gute Auftragslage gesichert sind.

Liebers überlegt gelegentlich, mehr Leute einzustellen, mehr Produktionsfläche anzumieten, zu wachsen. Seine aus Erfahrung, Skepsis und Kalkulationsvermögen genährte Vorsicht hat ihn bisher daran gehindert. Vielleicht auch ein bisschen die Sorge davor, dass sich die Wirtschaftsgeschichte der DDR als Farce wiederholen könnte. Danach sieht’s einstweilen nicht aus, jedenfalls nicht in Chemnitz.

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