Sigmar Gabriel ist stolz auf seinen Kandidaten. Und der SPD-Chef weiß, dass er den nahezu perfekten Mann präsentiert. Einen, der Christdemokraten und Konservative anspricht, einen Bürgerlichen eben, der mit seiner Geschichte über die Freiheit Menschenmengen für sich einnehmen kann.
Gemeint ist Joachim Gauck, den Gabriel gemeinsam mit dem Grünen Jürgen Trittin im Jahr 2010 zum Kandidaten der linken Parteien gekürt hatte. Damals trat Gauck in der Bundesversammlung gegen CDU-Mann Christian Wulff an, hielt spektakulär zwei Wahlgänge durch und musste sich erst im dritten Anlauf geschlagen geben. Nach dem Rücktritt Wulffs sollte er es schließlich doch noch ins Schloss Bellevue schaffen.
Sechs Jahre später ist Sigmar Gabriel wieder ein Coup gelungen. Der SPD-Chef hat seinen Parteifreund und Außenminister Frank-Walter Steinmeier als künftigen Bundespräsidenten durchgesetzt. Und das Szenario ist vergleichbar zu jenem im Jahr 2010. Erneut kürt Gabriel öffentlichkeitswirksam seinen Kandidaten, erneut lehnt die Kanzlerin den SPD-Mann zunächst ab. Und erneut zieht Angela Merkel letztlich den Kürzeren.
Was neu ist: Merkel verzichtet darauf, überhaupt einen eigenen Kandidaten zu benennen. Die Kanzlerin weiß, dass ein Kandidat, der allein von CDU und CSU unterstützt würde, in der Bundesversammlung nur schwerlich durchkäme. Und in einem De-facto-Wahlkampf zwischen Steinmeier und wen auch immer Merkel nominiert hätte, wäre es den Unions-Vorderen schwer gefallen, Argumente gegen den Außenminister aufzulisten. Die Kanzlerin nennt ihre Unterstützung Steinmeiers nun „eine Entscheidung aus Vernunft“, die SPD wiederholt wieder und wieder, der „beste Mann wird Bundespräsident“.
Die Bilanz der Kanzlerin in Sachen Bundespräsidenten ist eine Liste von Niederlagen: Horst Köhler, der erste Mann, den sie zum Präsidenten machte, schmiss nach sechs Jahren im Amt entnervt hin, weil er die Kritik an seiner Person nicht mehr aushielt. Die Kurzzeit-Präsidentschaft von Christian Wulff gilt als historischer Irrtum, ein Irrtum, den Merkel zu verantworten hat. Und Joachim Gauck hatte sie 2010 zu Gunsten Wulffs erst verhindert und 2012 nur widerwillig zugestimmt, nachdem ihr die FDP die Unterstützung für einen anderen Kandidaten verweigert hatte.
Sigmar Gabriel wusste damals wie heute die öffentliche Meinung geschickt für sich zu nutzen – erst pro Gauck, jetzt pro Steinmeier. Und die Kanzlerin fand offenbar niemanden aus der Union, der sich einen Wahlkampf um das erste Amt im Staat antun wollte. Verständlich, denn Steinmeier, das leugnet nicht mal die Linke, bringt alle Voraussetzungen mit, um ein guter Bundespräsident zu werden. Als Außenminister hat er sich weltweit Renommee erworben, er gilt als ausgleichend, verlässlich und als einer, der über die Parteigrenzen hinweg denkt.
Lieber Schwarz-Rot statt Schwarz-Grün
Doch hätte die Geschichte durchaus anders laufen können. Nehmen wir an, die Kanzlerin hätte beispielsweise Norbert Lammert, den amtierenden Bundestagspräsidenten, von einer Kandidatur überzeugen können. Nehmen wir weiter an, sie hätte ihren Parteifreund als Kandidaten frühzeitig kommuniziert – und zwar bevor Gabriel mit dem Steinmeier-Vorschlag vorgeprescht ist. Das Narrativ wäre womöglich ein ganz anderes gewesen: Merkel hätte einen respektablen Kandidaten nominiert und die SPD hätte erklären müssen, warum sie einen beliebten Außenminister aus dem Auswärtigen Amt abziehen will.
Oder eine andere Variante. Nehmen wir an, Union und Grüne hätten sich auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigt. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann macht aus seiner Sympathie für die Kanzlerin keinen Hehl. Auch andersherum ist das Verhältnis gut. Doch selbst wenn es nicht Kretschmann geworden wäre, sondern ein anderer schwarz-grüner Konsenskandidat: Die CSU war offenbar eher bereit, einen sozialdemokratischen Kandidaten mitzutragen als einen grünen.
Eine Vorentscheidung für die Koalitionsfrage nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr ist damit zwar nicht gefallen. Die Tendenz – im Zweifel lieber mit der SPD und nicht mit den Grünen – besteht aber sehr wohl. Und manche in der Union dürften nun meinen, dass die Sozialdemokraten ihnen etwas schuldig sind.
Für Sigmar Gabriel ist die Bundespräsidentenwahl ein Erfolg – mal wieder. Er hat zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Kandidaten ausgerufen. Gabriel hat Fakten geschaffen und Merkel vorgeführt. Dieses Geschick, klagen manche in seiner eigenen Partei, legt er zwar in Sachen Schloss Bellevue an den Tag. Für das Kanzleramt lasse er es aber vermissen.
Gaucks Wegmarken
Diese Rede schlug Wellen: Im Januar 2014 forderte Gauck in einer Ansprache vor der Münchner Sicherheitskonferenz über „Deutschlands Rolle in der Welt“ mehr Mut zu einer aktiven deutschen Außenpolitik - eventuelle Militäreinsätze eingeschlossen. Deutschland könne sich nicht um seine Verantwortung drücken, wenn es um die Verteidigung von Menschenrechten und die Beilegung von Konflikten gehe. Gauck tat mit der Rede das, was ein Bundespräsident idealerweise tut: Er trat eine Debatte los. Sie brachte ihm Anerkennung, aber auch den Vorwurf der Kriegstreiberei ein.
Aufmerksamkeit war Gauck immer dann gewiss, wenn er sich von Kanzlerin Merkel distanzierte. So sagte er im Mai 2012: Merkels Aussage, dass Israels Sicherheit für Deutschland Staatsräson sei, könne sie noch "in enorme Schwierigkeiten" bringen. Kurz darauf beklagte Gauck, die Politik mache den Bürgern das Vorgehen in der Euro-Schuldenkrise nicht ausreichend verständlich: Merkel habe die "Verpflichtung", mehr zu erklären. Wie schnell aus solchen Worten Schlagzeilen werden, erstaunte Gauck selbst. Mit öffentlicher Kritik an Merkel hielt er sich fortan zurück.
Als mutmaßlich letztem Vertreter der Kriegsgeneration im Präsidentenamt war sie Gauck ein Herzensanliegen: die Aussöhnung mit Europäern, die unter der deutschen Besatzung zu leiden hatten. Gauck besuchte Orte, die im Weltkrieg von Deutschen gezielt zerstört worden waren: Lidice in Tschechien, Oradour in Frankreich, Lyngiades in Griechenland, Sant'Anna di Stazzema in Italien. Treffen mit Zeitzeugen endeten mit Umarmungen, Tränen, tiefer Rührung. Mit solchen Begegnungen verlieh Gauck dem Amt auch jenseits der großen Schlagzeilen eine eigene Prägung.
In der Flüchtlingskrise bezog Gauck eine Sowohl-als-auch-Position. Er brachte sie auf den Nenner: „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Die Aufnahmekapazität sei bei allem guten Willen begrenzt, „auch wenn noch nicht ausgehandelt ist, wo diese Grenzen liegen“. Kritiker hätten sich ein beherzteres Eintreten für Flüchtlinge gewünscht. Gauck verwies auf seine Sorge vor einer gesellschaftlichen Spaltung und einem Erstarken rechter Kräfte. Auch dafür fand Gauck einen Begriff, der aufhorchen ließ: Er sprach von einem „Dunkeldeutschland“, in dem Fremde angefeindet würden. Bei einem Besuch im sächsischen Bautzen wurde er dann ausgebuht und als „Volksverräter“ beschimpft.
Als leidenschaftlicher Demokrat nutzte Gauck sein Amt zur Warnung vor autoritärer Machtausübung. In der Türkei kritisierte er 2014 das Demokratiedefizit - und zog sich eine verärgerte Replik von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu: „Er hält sich wohl immer noch für einen Pastor.“ Auch die Ambitionen von Kreml-Chef Wladimir Putin machten Gauck Sorgen: Aufhorchen ließ er 2014 in Danzig mit einer Warnung vor russischer Aggression. Eine Einladung zu den Olympischen Spielen in Sotschi schlug er aus. Auch gegenüber seinen eigenen Landsleuten in Deutschland trat Gauck gerne als „Demokratielehrer“ auf.
Einen eigenen geschichtspolitischen Akzent setzte Gauck im Umgang mit den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich. Aus Rücksicht auf türkische Befindlichkeiten vermied die Bundesregierung traditionell die Bezeichnung „Völkermord“. Gauck wich 2015 in seiner Rede zum 100. Jahrestag der Ereignisse von dieser Linie ab und sprach deutlich vom „Völkermord an Armeniern“ – wie danach dann auch der Bundestag. Die Türkei reagierte verärgert: Sie werde dem Bundespräsidenten die Rede „nicht vergessen und nicht verzeihen“, erklärte das Außenministerium in Ankara.
Staatsbesuche zählen zum Kerngeschäft des Bundespräsidenten. Einen heiklen Besuch absolvierte Gauck im März 2014 in Griechenland, wo er auf Vorbehalte wegen Deutschlands strengem Auftreten in der Schuldenkrise und wegen der griechischen Forderungen nach Kriegsreparationen stieß. Gauck machte Mut zu Reformen, äußerte Unbehagen über den Umgang mit der deutschen Kriegsschuld – lehnte Reparationen aber ab. Er wolle „Möglichkeiten von Wiedergutmachung“ sondieren, sagte er. Ergebnisse liegen bislang aber noch nicht vor.
Denn Gabriels Umfragewerte dürften kaum besser werden, nur weil sein Parteifreund Steinmeier Bundespräsident wird. Gabriel fehlt auch nach seinem heutigen Triumph ein Plan für den Bundestagswahlkampf. Der SPD-Chef hat noch immer nicht entschieden, ob er als Kanzlerkandidat für die SPD antritt. Oder ob er womöglich Martin Schulz, derzeit noch Präsident des Europäischen Parlaments in Brüssel, den sich viele auch als Außenminister in Berlin vorstellen könnten, den Vortritt lassen sollte.
Aber zunächst gilt: Die peinliche Suche nach einem neuen Bundespräsidenten ist beendet. Frank-Walter Steinmeier ist bereits heute der beliebteste Politiker des Landes. Und daran dürfte sich auch in den kommenden Jahren nichts ändern. Merkel hat recht: Steinmeier ist eine Entscheidung aus Vernunft – eine gute Entscheidung, zu der die Kanzlerin keine Alternative hatte.