Stephans Spitzen

Von wegen „postfaktisch“! Realität ist gefragt

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Die „postfaktischen“ Zeiten sind vorbei

Dass das Dublin-Verfahren nicht funktioniert, weil es die Erstaufnahmeländer an der Peripherie überlastet, ist schon länger bekannt. Dass die Destabilisierung Libyens keine gute Idee und der hierzulande begeistert begrüßte „arabische Frühling“ eine Illusion war, ebenfalls. Vor allem aber: Die UNHCR hatte längst Alarm geschlagen. Die Hilfsorganisation der UNO brauchte dringend Geld für die Lager in den Nachbarländern, in denen beinahe 4 Millionen syrische Flüchtlinge versorgt werden mussten.

Zu den Pushfaktoren aber kamen mit der Gefühlspolitik Merkels, die sich nicht weiter als „Eiskönigin“ titulieren lassen mochte, die Pullfaktoren. In einer großartigen, ja: atemberaubenden Reportage für Cicero schildert der Schweizer Autor und Fotograf Rudolph Jula, wie die Grenzöffnung am 4. September bei jungen Syrern im syrischen Grenzgebiet ankam, wo er sich just zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Sie fühlten sich von der Bundeskanzlerin eingeladen („absolutely“) und brachen allein deshalb sofort auf in Richtung auf das gelobte Land. „Indem die Kanzlerin eine Entscheidung fällte, ohne deren Konsequenzen zu tragen oder auch nur einzugestehen, dass es welche gab, löste sich der politisch essenzielle Zusammenhang zwischen dem Tragen von Verantwortung und der Übernahme von Verantwortung auf.“ (Rudolph Jula, Der vierte September. In: Cicero. Magazin für politische Kultur, September 2016). Ihre jüngste Rede unterstreicht diesen Befund.

Wir leben in postfaktischen Zeiten? Nein. Sicher gibt es Menschen, die sich der „Informationsflut“ in der digitalen Welt nur dadurch erwehren zu können glauben, dass sie gleich gar nichts mehr wissen wollen. Doch es sind just die vielfältigen Möglichkeiten, sich abseits der eingeführten Informationskanäle zu orientieren, die zur Entmachtung des Konsenskartells der politischen und Meinungseliten geführt haben. Nicht nur die Politik, auch die traditionellen Medien erleben einen Vertrauensverlust, der insbesondere den nicht öffentlich finanzierten Medien an die Substanz geht.

Ich weiß, es ist ein völlig unrealistischer Vorschlag, aber ich denke, es ist an der Zeit, die Illusion des „Postfaktischen“ zu beenden und es mit Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit zu versuchen. Wer fängt an?

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