Wer wissen will, wie es derzeit um Land und Regierung bestellt ist, dem seien zwei Bücher ans Herz gelegt, deren Lektüre schmerzt, die aber für die nötige Klarheit sorgen, sofern man keine Angst vor der Wirklichkeit hat.
Das eine stammt von Robin Alexander, Hauptstadtkorrespondent der Welt am Sonntag. In dieser Position gehört man vielleicht zu einer Art diplomatischem Korps unter den Journalisten – im Buch „Die Getriebenen“ jedenfalls geht es äußerst höflich zur Sache. Das macht den Befund allerdings erst so richtig gnadenlos. Der Befund: in der schwersten Krise der Nachkriegszeit im September 2015 gab es in der Bundesregierung niemanden, der Verantwortung übernahm. Ungebremst ließ man das Land ins Chaos schlittern – nicht aus Not, nicht aus Ausweglosigkeit, schon gar nicht aus „humanitären“ Gründen. Sondern weil man sich vor einer Entscheidung drückte. Nüchtern und detailgenau listet Robin Alexander auf, was im September 2015 geschah – und, wenn auch nur am Rande, was passierte, bevor die Bundeskanzlerin Deutschland zum Land der offenen Grenzen erklärte.
Politische Schlafkrankheit
Nichts war „unvorhergesehen“, schicksalhaft, unaufhaltsam. Dieter Romann, der Präsident des Bundespolizeipräsidiums, lief bereit im Frühjahr 2015 mit einer selbstgebrannten CD durchs politische Berlin und zeigte allen, die es wissen wollten, welche Menschenmengen auf der Balkanroute unterwegs waren – Richtung Deutschland. Wer es wissen wollte, wusste ebenfalls schon längst, dass der Hilfsorganisation der UN das Geld ausgegangen war, um Lager in der Nähe der Krisenregionen erträglich unterhalten zu können. Man wurde im Kanzleramt von alledem völlig überrascht? Das ist entweder gelogen oder, schlimmer noch, der Beweis für eine Art politische Schlafkrankheit.
Doch mit Vorwürfen hält sich Alexander nicht lange auf, er ist kein Polemiker, keiner, der an der „Schuldfrage“ interessiert ist, ihn beschäftigen die Mechanismen, die zu Entscheidungen führen bzw. sie verhindern. Er bleibt bei seinem Gegenstand: nahe an der Macht – bzw. an den ohnmächtigen Entscheidungsträgern.
Sowohl Angela Merkel als auch der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann erklären die Grenzöffnung am 4. September im Nachhinein zu einer spontanen humanitären Entscheidung. Alexander legt plausibel dar, dass sie nichts dergleichen war, dass beide vielmehr „durch eine sorgfältig geplante und vorbereitete Aktion der ungarischen Regierung in diese Entscheidung hineingetrieben“ wurden. Nebeneffekt: eine Registrierung der „Flüchtlinge“ an der bayerischen Grenze blieb aus. Wer damals alles nach Deutschland gekommen ist, ist bis heute nicht bekannt.
Doch der Hauptakzent der peniblen (und dennoch überaus lesbaren) Untersuchung Alexanders liegt nicht auf diesem ersten Kontrollverlust, den damals wie heute Mitleidige noch hinnehmen mochten. Die entscheidende Frage ist: warum schloss man die Grenze nicht eine Woche später? Weil man nicht konnte, wie die Kanzlerin bald verbreitete, weil Grenzen nun mal nicht gesichert werden könnten?