Als der Lenkungskreis des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 den Vorstand der Deutschen Bahn im Oktober dieses Jahres darum bat, für das Projekt eine aktualisierte Kosten- und Fertigstellungsprognose zu erarbeiten, willigte Bahnchef Richard Lutz sofort ein. Der Manager, der seit den Neunzigerjahren für die Bahn arbeitet und den umstrittenen Bahnhofsbau in Stuttgart immer mitgetragen hat, wollte selber wissen, womit er noch zu rechnen hat. Das Ergebnis liegt nun vor - und es birgt Sprengstoff.
Die Gesamtkosten von Stuttgart 21, so das Gutachten für die Bahn, könnten auf 7,9 Milliarden Euro steigen. Eine Summe von 7,6 Milliarden Euro gilt als sicher. Das wären 1,1 Milliarden Euro mehr als zuletzt angenommen. Die letzte Kostenprognose stammt aus dem Jahr 2013. Weitere 300 Millionen Euro sieht der Bahn-Vorstand darüber hinaus als Risikopuffer vor. Der Bahnhof wird außerdem voraussichtlich erst im Dezember 2024 eröffnen - drei Jahre später als geplant.
Für Bahnchef Lutz ist das neue Gutachten eine Hiobsbotschaft. Denn die Gesamtkosten dürften sehr wahrscheinlich auf knapp acht Milliarden Euro ansteigen, da der Risikopuffer von 300 Millionen Euro mit ziemlicher Sicherheit ausgereizt werden wird. Er beinhaltet nämlich Risiken, die mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 50 Prozent eintreten. Das sieht die vertrauliche Beschlussvorlage für den Aufsichtsrat vor, dessen Inhalt der WirtschaftsWoche bekannt ist. Zu den Risiken gehören beispielsweise noch zu vergebende Aufträge. Da die Bauwirtschaft boomt, sind Bauleistungen derzeit nicht mehr zum Schnäppchenpreis zu bekommen. Außerdem drohen geologische Risiken wie Einwirkungen des Minerals Anhydrit und Nachträge durch die Bauunternehmen.
Lutz Dilemma ist, dass die Bahn den neuen Kostenblock von bis zu 1,4 Milliarden Euro möglicherweise alleine schultern muss. Zwar wird der Bahnhofsumbau auch von anderen Partnern wie dem Bund, dem Land Baden-Württemberg, der Stadt Stuttgart und der Region mitfinanziert. Doch der Bund will sich an den Mehrkosten nicht beteiligen. Auch das Land und die Stadt lehnen eine weitere Finanzierungsbeteiligung ab. Es droht ein langjähriger Streit und gegenseitiges Zuschieben von Verantwortung.
Das Land Baden-Württemberg werde sich nicht an Mehrkosten beim Bahnprojekt Stuttgart 21 beteiligen, heißt es aus Regierungskreisen in Stuttgart. „Die dem Land bis heute bekannten Mehrkosten entstammen dem alleinigen Verantwortungsbereich der Deutschen Bahn“, sagte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Daher seien Bund und Bahn in der Pflicht, die weiteren Mehrkosten zu tragen.
Stuttgart stellt sich quer
Auch Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn stellt sich quer. Der Grünen-Politiker verwies auf die ursprüngliche Kostenprognose in Höhe von 4,5 Milliarden Euro. So viel sollte S21 kosten, dachte man zumindest zu dem Zeitpunkt, als die Bahn im Jahr 2009 vor Baubeginn eine aktualisierte Kostenprognose vorlegte. Die Stadt steuert 300 Millionen Euro zu dem Projekt bei. „Der Kostendeckel gilt für uns“, sagt Kuhn.
Für die Deutschen Bahn könnte sich rächen, dass das Schlichtungsverfahren von 2010 zwar im Prinzip alle zerstrittenen Parteien an einen Tisch brachte, aber in puncto Finanzierungsbeteiligung im Falle von Mehrkosten keine Klarheit gebracht hat. Weiterhin gilt der Finanzierungsvertrag aus dem Jahr 2009. Im Paragrafen acht, Absatz vier, des Vertrags heißt es: „Im Fall weiterer Kostensteigerungen nehmen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen und das Land Gespräche auf.“
Doch die Projektpartner interpretieren die sogenannte Sprechklausel unterschiedlich. Die Bahn erhofft sich dadurch einen Automatismus, dass das Land auf jeden Fall in die weitere Finanzierung einsteigen muss. In Stuttgart definiert man die Klausel lediglich als Einladung zu Gesprächen. Bereits im Jahr 2013 hatte die Deutsche Bahn die Klausel gezogen. Derzeit läuft ein Rechtsstreit, wie die Vereinbarung zu interpretieren ist.
In Stuttgart hofft man inzwischen gar auf eine ganz andere Lösung. Angesichts der jüngst bekanntgewordenen Kostensteigerungen beim Bahnprojekt Stuttgart 21 hat Oberbürgermeister Kuhn den Bund in die Pflicht genommen. „Jetzt muss der Bund sagen, dass er die Verantwortung für dieses Projekt übernimmt“, sagte der Grünen-Politiker am Mittwoch in Stuttgart. Das müsse auch bei der Regierungsbildung in Berlin berücksichtigt werden; den Konflikt um die Verteilung von womöglich 3,1 Milliarden Euro, die die ehemalige Kostengrenze von 4,5 Milliarden Euro übersteigen, könnten Gerichte nicht lösen. Eine große Koalition aber vielleicht schon.
Stuttgart 21: Die nächste Milliarde wird fällig
Das Großprojekt Stuttgart 21 ist seit Jahren umkämpft - nun gibt es neuen Ärger. Das Bauvorhaben wird nochmal gut eine Milliarde Euro teurer. Die Bahn rechnet nach Informationen aus Aufsichtsratskreisen nun mit einem Kostenrahmen von 7,6 Milliarden Euro. Außerdem verzögert sich das Vorhaben und soll erst Ende 2024 fertig werden. Warum ist das Projekt so kompliziert? Wer zahlt nun drauf und was bedeuten die Verzögerung für Bahnfahrer? Wichtige Fragen und Antworten im Überblick.
Quelle: dpa
Offiziell hat sich die Bahn nicht dazu geäußert. Aus Kreisen des Aufsichtsrats werden jedoch etwa gestiegene Baukosten genannt, Verzögerungen in den Planungsverfahren und strenge Vorschriften des Artenschutzes für Eidechsen und Käfer. Diese Gründe wurden schon vor vier Jahren aufgezählt, als der Kostenrahmen um zwei Milliarden Euro erhöht wurde. Die Bahn wollte gegensteuern, um Kosten und Zeitplan im Griff zu halten, das hat offenkundig nicht geklappt. Kritiker halten schon lange Kosten von bis zu zehn Milliarden Euro für möglich.
Schwierige Frage, denn darüber wurde schon vor den neuen Nachrichten gestritten. Ein Knackpunkt ist ein Passus im Finanzierungsvertrag: Die sogenannte Sprechklausel sagt, dass im Fall weiterer Kostensteigerungen die Eisenbahnunternehmen und das Land „Gespräche“ aufnehmen. Aber was heißt das genau? Aus Sicht der Bahn ist auch eine finanzielle Mehrbeteiligung vor allem des Landes und der Stadt Stuttgart gemeint. Die Projektpartner pochen allerdings darauf, dass die Klausel lediglich zum Sprechen auffordert.
Die Bahn setzt auf die Justiz. Ende 2016 reichte der Konzern Klage gegen das Land Baden-Württemberg ein. Er will damit nach eigenen Angaben verhindern, dass mögliche finanzielle Ansprüche auf eine Beteiligung der Partner an den Mehrausgaben verjähren. Der Ausgang des Verfahrens ist offen, einen Verhandlungstermin gibt es noch nicht. Baden-Württemberg will nicht mehr als die vereinbarten 930 Millionen Euro zahlen. Auch der Flughafen Stuttgart als ein weiterer Partner lehnt eine Beteiligung an Zusatzkosten ab.
Alle müssen noch länger eine Baustelle ertragen. Die Gegend um den Hauptbahnhof ist mit dem Auto schwer zu befahren, immer wieder kommt es zu Staus. Zudem wurden die Gleise für die Bauarbeiten nach hinten verlegt. Man muss also länger laufen, um zu den Zügen zu kommen.
Aus dem oberirdischen Bahnhof soll ein Tiefbahnhof werden. Der bisherige Kopfbahnhof mit 16 Gleisen soll durch eine unterirdische Durchgangsstation mit 8 Gleisen ersetzt werden. Die Bahn hat die Verzögerungen in der Vergangenheit unter anderem mit aufwendigen Planänderungen für die Entrauchung des Tiefbahnhofs und mit dem schwierigen Tunnelbau im Gestein Anhydrit erklärt.
Anhydrit quillt beim Kontakt mit Wasser auf. Ein vom Bahn-Aufsichtsrat beauftragtes Gutachten hatte besagt, dass die Tunnel zum Dauersanierungsfall werden könnten. Mittlerweile sind aber von geplanten 59 Kilometern Tunnel 60 Prozent bereits vorgetrieben. Dabei seien 90 Prozent der risikoreichen Anhydrit-Linsen ohne Probleme durchfahren worden, teilte die Bahn erst vor zwei Wochen mit.
Erklärt die Bahn den Zeitverzug, verweist sie gerne auch darauf. Tatsächlich müssen an mehreren Stellen entlang der Strecke Richtung Ulm und in Stuttgart Tausende streng geschützte Eidechsen umgesiedelt werden. 15 Millionen Euro hat die Bahn dafür eingeplant. In einigen schwierigen Fällen errechnete das Unternehmen Kosten von bis zu 8599 Euro - pro Tier. Nicht das Einfangen mache das Ganze so teuer und zeitaufwendig, so die Bahn, sondern auch Planung, Beobachtung, Vertreibung sowie Beschaffung neuer Lebensräume. Andernorts muss Rücksicht auf den geschützten Juchtenkäfer genommen werden. Selbst wo Bäume stehen, in denen das seltene Krabbeltierchen nur vermutet wird, muss umgeplant werden.
Die Bahn setzt darauf, dass der Zugverkehr besser abgewickelt werden kann. Der Kopfbahnhof wird unter der Erde zum Durchgangsbahnhof. Damit werde der neue Bahnhof leistungsfähiger, argumentieren die Befürworter. Bisher mussten die Züge auf den Gleisen immer wenden. Die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm soll von 54 auf 31 Minuten verringert werden. Stuttgart 21 ermöglicht auch den Lückenschluss in der europäischen Magistrale Paris-Budapest. Die Stadt gewinnt zudem neuen Baugrund: Durch das Verlagern von Gleisen unter die Erde werden Parkanlagen erweitert, Wohnungen und Büros können entstehen.
Jedes Bahnvorhaben fällt anders aus, Vergleiche sind schwierig. Der größte Bahnhof, der zuletzt in Deutschland gebaut wurde, war der Berliner Hauptbahnhof: Mit 1,2 Milliarden Euro geriet er bei der Eröffnung 2006 zum teuersten Bahnhof der Nachkriegszeit. „Stuttgart 21“ umfasst neben dem neuen Tiefbahnhof aber auch die vielen nötigen Tunnelstrecken. Es schlägt in seinen Kosten auch ein anderes Infrastrukturprojekt, das Schlagzeilen macht: Für den neuen Hauptstadtflughafen BER sind bisher 6,5 Milliarden Euro veranschlagt.
Kritiker befürchteten von Anfang an, dass die Kosten aus dem Ruder laufen. Sie argumentierten, dass die Modernisierung des alten Bahnhofs mehrere Milliarden weniger gekostet hätte. Außerdem wurden Teile des denkmalgeschützten Gebäudes abgerissen und alte Bäume im Schlossgarten gefällt. Im Herbst 2010 war der Konflikt eskaliert: Bei der Räumung des Parks setzte die Polizei Wasserwerfer ein, mehr als 160 Menschen werden verletzt. Noch heute gibt es montags Demos; es kommen zwar längst nicht mehr so viele wie zu den Hochzeiten des Protests - allerdings wird es bald die 400. Montagsdemo geben.
Zehntausende protestierten gegen das Vorhaben, letztlich sprachen sich aber viele Baden-Württemberger 2011 für das Projekt aus. Bei einem Volksentscheid stimmte die Mehrheit gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung - und damit für Stuttgart 21. Immerhin umbenannt werden muss das Projekt nicht: Die Zahl im Namen soll nicht für einen Eröffnungstermin stehen, sondern für das 21. Jahrhundert.