Superwahljahr 2011 Vorzeige-Politiker: Die Bürger-Meister

Der Auftakt in Hamburg markiert das Ende der machtgesteuerten Gesinnungspolitik. Die Bürger wählen Sachverstand, Wirklichkeitssinn und Ideologieferne; sie wollen was leisten, mitmischen – und gut regiert in Ruhe gelassen werden. WirtschaftsWoche-Chefreporter Dieter Schnaas über die neue deutsche Sehnsucht nach politischer Ernsthaftigkeit - und vier ihrer typischen Vertreter.

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Walter Scheuerl Quelle: Arne Weychardt für WirtschaftsWoche

Nirgends in Deutschland ist Politik so schrill wie in Hamburg. Vier Neuwahlen hat die Stadt seit 1982 erlebt und den Aufstieg der Statt-Partei, die Grünen nennen sich hier GAL wie gallig und erfreuen sich dafür der andauernden Verachtung einer bundesweit einmalig aristokratischen Sozialdemokratie. Der erste CDU-Bürgermeister seit 1957 wiederum, Ole von Beust, hat gleich nach seinem Amtsantritt 2001 aufgeräumt in der „Hauptstadt des Verbrechens“, mit Hilfssheriffs wie Ronald Schill (Innensenator) und Roger Kusch (Justizsenator), die Sexualstraftäter brechmittelfoltern und im Übrigen kastriert wissen wollten – und sieben Jahre später mit der Igitti-GAL paktiert, um in der Hauptstadt des „unverhohlenen Ressentiments“ gegen die, „die sich für die Elite halten“, die Einführung der sechsjährigen Grundschule durchzuboxen.

Dumm nur, dass sich die Elite in Hamburg bei aller Politikklabauterei am Wahltag zur Mehrheit sammelt und die schrille Politik mit einem stillen Kreuz an der richtigen Stelle quittiert. Das war 2001 der Fall, als die Hamburger SPD das Kriminalitätsproblem am Hauptbahnhof verharmloste. Und das ist auch diesmal so, nachdem die Post-Beust-CDU eine konservative Kehre hingelegt und wochenlang all das verteufelt hat, was sie vor Kurzem noch wegweisend fand: die Urbanität markierende Figur eines leidlich fleißigen Bürgermeisters, eine Schulreform, die das Wahlversprechen konterkarierte, und natürlich die schwarz-grüne Koalition selbst, die christdemokratische Weltläufigkeit annoncieren und der Merkel-Union Modell für künftige Mehrheiten im Bund stehen sollte. Nun – die Irrlichterei hat ihr abruptes Ende gefunden: Die Hamburger CDU stürzt nach himmelhochjauchzenden 47,2 Prozent (2004) ins Bodenlose, während die hanseatische SPD nach 30,5 Prozent (2004) noch einmal erfahren darf, wie sich Volkspartei anfühlt.

Natürlich legen die Berliner Parteizentralen das Hamburger Wahlergebnis jetzt auf je ihre Weise aus: Die CDU findet für ihre Niederlage lokale Gründe, die SPD erklärt ihren Sieg zum Deutschland-Trend. Interessant daran ist, dass beide Parteien mit ihren Analysen ins Schwarze treffen – wenn auch auf unfreiwillig komische Weise. Einerseits zeigt Hamburg, dass es keine größere politische Torheit gibt als die Losung der Union (und FDP), den straßenpolitisch engagierten Teil der Bevölkerung unter Zukunftsverweigerungsverdacht zu stellen. Die Deutschen sind kein Volk der „Blockierer“ und „Verhinderer“, die „immer erst das Negative suchen“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel); sie dulden bloß keine Politik, die über ihre Köpfe hinweg entscheidet, vor allem nicht dort, wo Politik und Leben sich täglich begegnen und wo sich politische Verantwortung leicht zurückverfolgen lässt: in den Kommunen, Landkreisen und Bundesländern.

Andererseits zeigt Hamburg, dass die SPD nur noch dort auf 35 Prozent plus hoffen darf, wo sie als Partei des Sachverstands und der Ideologieferne durchgeht – also außerhalb von Hamburg praktisch nirgendwo. Spitzenkandidat Olaf Scholz verdankt seinen Erfolg ja nicht nur dem Desaster der CDU, sondern auch dem lauten Beschweigen einer Weltsicht, wie sie die Sigmar-Gabriel-SPD verbreitet: Die Deutschen dulden eben keinen Politikentwurf, in dem sie zum „Spielball... marktradikaler Kräfte“ und zum Zielobjekt sozialstaatlicher Fürsorge herabgewürdigt werden (SPD-Fortschrittsprogramm), im Gegenteil: Sie wollen gefordert werden, was leisten und mitmischen, ihre Steuergelder anständig verwendet sehen – und gut regiert in Ruhe gelassen werden.

Politische Treulosigkeit

Der Auftakt zum Wahlfrühling in Hamburg, Sachsen-Anhalt (20. März), Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz (je 27. März) ist daher mehr als nur ein weiterer Regierungswechsel im parteiendemokratischen Tagesgeschäft. Er markiert das Ende der machtgesteuerten Gesinnungspolitik. Die Parteien können sich nicht mehr auf fest verfugte Milieus stützen; die Deutschen verschenken ihre Stimme nicht mehr aus Prinzip und Tradition; sie wählen ihre Regierungen nicht mehr – sondern wählen sie ab. Nie war die politische Treulosigkeit größer – und nie zugleich die Sehnsucht nach Augenmaß, Vernunft und Pragmatismus. Die Deutschen strafen parteipolitische Taktiererei, angemaßte Herrschaftsfülle und ideologische Starrköpfigkeit ab, ganz gleich, ob sie schwarz, gelb, rot oder grün angestrichen ist.

Sie leihen Parteien Vertrauen und entziehen es ihnen wieder, weil sie von allen etwas erwarten, was keine erfüllt: von SPD, Grünen und Linken mehr Zuversicht, Anstrengungsrhetorik und Aufstiegsethos als Bremsbereitschaft, Umverteilungswillen und Abstiegsbegleitung – und von Union und FDP mehr Sensibilität für die postmodernen Grundbedürfnisse, für Klimaschutz, Familienzeit, artgerechte Tierhaltung – und deutlich mehr Empathie im Umgang mit gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeitsfragen, wie Armut, Niedriglohn und Zeitarbeit.

Rückkehr der Dienstleister

Boris Palmer Quelle: Andreas Körner für WirtschaftsWoche

Walter Scheuerl hat es kommen sehen. Die SPD sei in Hamburg gegenwärtig die Partei der Mitte, sagt er respektvoll, stets am Problem und seiner Lösung orientiert – auch wenn er das ein oder andere Ziel der Sozialdemokraten nicht teile. Scheuerl hat in den vergangenen zwei Jahren ein Politikverständnis entwickelt, das sich in seiner altmodischen Seriosität radikal von dem der professionellen Strömungslenker in den Parteizentralen unterscheidet. Als Beschwerdeführer der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen!“ hat er den Einspruch gegen die Einführung einer sechsjährigen Primarschule angeführt – und den Beweis geliefert, dass es eine immense Nachfrage nach ernsthafter Politik gibt, die sich weder durch Machtworte der politischen Elite noch durch den Einfluss ihrer Marketingexperten und Social-Network-Manager außer Kraft setzen lässt. „Ich glaube, dass unser Protest zu einer Repolitisierung der Politik beigetragen hat“, sagt der Rechtsanwalt – und er meint das durchaus antikisch: So wie „Freiheit“ in Griechenland vor allem Teilhabe am Staat und nicht Freiheit vom Staat gemeint hat, so sehr seien auch die Freiheitsbürger heute, sagt Scheuerl, zur „aktiven Gestaltung ihres Gemeinwesens“aufgerufen – nicht zuletzt deshalb, weil jede aufrichtig gemeinte Einmischung positive Rückkopplungen mit dem politischen Betrieb nach sich ziehe: „Die Regierenden lernen sich wieder als Dienstleister kennen.“

Oder sie nehmen ihren Hut, weil sie sich weigern, neue Bekanntschaft mit ihrem Beruf zu schließen. Ole von Beust hat nicht den Dialog mit seinen Bürgern gesucht, sondern den Druck auf sie erhöht, er hat sein politisches Schicksal mit dem „Ja“ der Hamburger zur Schulreform verbunden – und seinen Gegnern sozialen Rassismus vorgeworfen. Nichts hat von Beust mehr geschadet als der Dünkel des Regierenden, es besser zu wissen als die Regierten, als die Hoffart des Politikers, nicht nur von der Überlegenheit seiner Meinung überzeugt zu sein, sondern sie auch noch als Dienst am Gemeinwohl durchsetzen zu wollen – gegen die Mehrheit. Die explodierenden Kosten der Elbphilharmonie, die Havarie der HSH Nordbank, die Erhöhung der Kita-Gebühren, die Tit-for-Tat-Politik einer Koalition, die zur wechselseitigen Machtstabilisierung ein Kohlekraftwerk mit der Stadtbahn und die Vertiefung der Elbe mit der Schulfrage verrechnete – das alles hätten die Hamburger der CDU verziehen, wenn die Partei nicht plötzlich, ohne Diskussion und argumentative Vorbereitung, an Hamburger Kindern das Exempel einer mustergültigen Bildungspolitik hätte statuieren wollen.

Warum aber stehen dann ausgerechnet die Grünen in diesem Superwahljahr vor historischen Erfolgen, also die Partei, die sich noch nie gescheut hat, ihren Idealen gesetzgeberisch auf die Sprünge zu helfen? Weil es heute schick ist, fair zu handeln, fair einzukaufen – und fair zu wählen? Henning Voscherau sagt, der Erfolg der Grünen verdanke sich der „emotionalen Identifizierung mit einer Partei, die sich in Einklang mit dem Lebensgefühl einer Gesellschaft befindet, die ihre ökonomischen Probleme für gelöst hält“. Man habe es bei den Grünen, meint der frühere Hamburger SPD-Bürgermeister, nach wie vor mit einer „idealistischen, manchmal ideologischen“ Partei zu tun, die es noch immer nicht geschafft habe, „sich bei der Umsetzung ihrer anspruchsvollen Wünsche als pragmatische Bearbeiterin von Zielkonflikten“ zu erweisen. Dass moderne Politik in einer komplexen Welt mehr denn je Entscheidungen zu treffen habe, die nicht richtig oder falsch seien, sondern beides zugleich, dass sie sich daher für Wachstum und Umweltschutz, für individuelle Differenz und Gemeinsinn, für Leistung und Solidarität einzusetzen habe – das sei den moralzuchtmeisterlichen Grünen mit ihrem ausgeprägten Sendungsbewusstsein nach wie vor fremd.

Boris Palmer ist so ein grüner Missionar – nur moralisch, das ist er nicht, im Gegenteil: Palmer ist ein Propagandist der Aufklärung – die quicklebendige Antithese zum schlecht gelaunten Fortschrittshemmer. Der Mathematiker ist Bürgermeister von Tübingen, kommunaler Klimaschützer und engagierter Befürworter von „Stuttgart 20“, also eines Bahnhofs, wie er ist und bleiben soll. Palmer hat klar definierte Ziele; er setzt nicht nur Prioritäten, sondern will sie auch durchsetzen – mit der Beweiskraft von Fakten und der Evidenz des besseren Arguments. „Am Anfang aller Politik“, sagt Palmer, „steht nicht Weltanschauung, sondern Analyse.“

Keine Lust auf landesväterlichen Absolutismus

Für Palmer liegt der Erfolg der Grünen nur vordergründig darin, „dass wir bereits vor 30 Jahren Themen bearbeitet haben, die heute von hegemonialer Bedeutung sind“. Viel entscheidender sei, dass seine Partei eine Politik anbiete, die dem Fortschritt eine Richtung weise und sich nicht in Fortschreiterei erschöpfe. Der Wohlstandsbürger, da ist sich Palmer sicher, will sich nichts vorschreiben lassen, weder die Schule für seine Kinder noch die Wahl seiner Verkehrsmittel; er will nicht beeinträchtigt werden, weder durch Bahnhofsbaustellen noch durch Windkraftanlagen. Moderne Politik habe daher zwei Aufgaben zu erfüllen: Sie muss die Einzelinteressen ihrer Bürger ernst nehmen – und den Nachweis führen, dass es zuweilen übergeordnete Interessen gibt, die wichtiger sind. „Gute Politik“, sagt Palmer, „ist gnadenlos transparent. Sie muss laufend nachweisen, dass sie die besseren Argumente hat – zum Wohle des Ganzen.“

Es ist kein Geheimnis, dass Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) diesem Anspruch nicht immer genügt und einen eher traditionellen Politikstil der tätigen Machtausübung bevorzugt. Mappus hat vorsätzlich Steuerkriminelle geschont und auf den Ankauf einer CD mit Sünderdateien verzichtet. Er hat mit der Hilfe eines Banker-Kumpels Anteile am Energieversorger EnBW zurückgekauft, den Deal am Parlament vorbei eingefädelt – und sich zu seinem tollen Coup beglückwünscht. Und natürlich hat er den Protest am Stuttgarter Bahnhof auffegen lassen, um aus vorgeblicher Sorge um den Wirtschaftsstandort den Nachweis seiner politischen Durchschlagskraft zu erbringen. Vor allem aber war Mappus vollkommen überrascht, dass seine Zuchtbullenpolitik nicht mit Beifall bedacht wurde. Erst seit Heiner Geißler (CDU) den Bahnhofstreit befriedet hat und er selbst dazu übergegangen ist, jeden Morgen Kreide zu fressen, hat er den Abwärtstrend der CDU stoppen können. Noch immer aber rangiert die schwarz-gelbe Koalition in ihrem Stammländle zehn Punkte unter Niveau. Ganz gleich also, ob Mappus am 27. März die Nase vorn hat oder nicht – die Zeiten eines landesväterlichen Absolutismus sind auch im Südwesten der Republik passé.

Mehr Lebensnähe, bitte

Lisa Federle Quelle: Andreas Körner für WirtschaftsWoche

Fragt man Lisa Federle, kann der CDU in Baden-Württemberg etwas mehr Sinn für Machtbeschränkung und Lebensnähe nur gut tun. Federle ist eine alleinerziehende Mutter von vier erwachsenen Kindern, ehrenamtlich engagiert im Gemeinderat der Stadt Tübingen und im Kreistag, im Deutschen Roten Kreuz und im örtlichen Frauenhaus: „Immer im Einsatz“, so wirbt sie für sich und: „Mitten im Leben.“ Federle entstammt einem pietistischen Elternhaus, sie wächst mit Flechtzöpfen auf und Hahn’schen Erbauungsstunden. Als sie elf ist, stirbt der Vater, ein Professor, Lisa bleibt zweimal sitzen, schmeißt die Schule, reißt sich von zu Hause los und wird mit 17 schwanger: „Ich hatte von nichts ’ne Ahnung.“

Mit 19 erwartet sie ihr zweites Kind, sie schlägt sich als Putzfrau und Wirtin durch, holt ihren Hauptschulabschluss nach, das dritte Kind vom zweiten Mann erwartet sie kurz vor dem Abi, das vierte während des Medizinstudiums, in ihrer Doktorarbeit setzt sie ihre Erfahrung als Wirtin um, schreibt über Alkoholismus. „Ich habe viel erlebt und viel gearbeitet“, sagt die Notärztin heute: „Mir macht so leicht keiner was vor.“

Vor zwei Jahren tritt Federle aus der SPD aus, der sie gewohnheitsmäßig angehört – und läuft zur CDU über. Der Ypsilantismus in Hessen macht sie fassungslos, das Machtnuttenverhalten, die Wahllüge, die Linksflirterei, die rote Opferrhetorik. Mag sein, dass Federle sich nicht mit Ludwig Erhard und Oswald von Nell-Breuning auskennt, aber was das Leben lehrt, das weiß sie genau: Man muss Geld haben, bevor man es verteilen kann; man kann im Leben stolpern, aber man kann auch wieder aufstehen. Federle kandidiert bei den Kommunalwahlen; die Menschen mögen sie und ihre Biografie – und krönen sie zur Stimmkönigin.

Als es aber im vergangenen Spätsommer darum geht, wer sich für die CDU um einen Platz im nächsten Landtag bewerben soll, übt sich der konservative Teil der Partei in übler Nachrede, leert kübelweise Schmutz über Federle und ihr Leben aus. Zu den polithygienischen Tiefpunkten der Kampagne gehören verschwundene Stimmzettel und ein Aufnahmestopp für Neumitglieder – vergebens: Die Landes-CDU fällt immer tiefer in den Umfragekeller, und eine Mehrheit der Tübinger CDU findet, dass allein Federle noch eine Chance gegen die Grünen hat.

Uwe-Volkmar Köck Quelle: Christoph Busse für WirtschaftsWoche

„Es kann sein“, sagt Federle, „dass ich am Ende auch aus wahltaktischen Gründen gewonnen habe.“ Und wenn schon. Lisa Federle hat lange genug überlegt, warum sie sich das alles antut. Sie weiß, wie das Leben spielt – und nimmt es, wie es kommt. Sie kann mit der familienpolitischen Idyllenpflege in ihrer Partei nichts anfangen und fordert ausreichend KitaPlätze. Sie will die soziale Blindstelle in ihrer Partei ausfüllen, weil sie täglich vom Ende her erlebt, wozu Stress, Angst, Armut und Jobverlust führen können.

Auch wenn sie es schaffe in den Landtag, sagt Federle, wolle sie als Notärztin „immer im Einsatz“ bleiben. Um zu retten, was zu retten ist: auf der Straße und in der Politik, mit der Mappus-CDU, gewiss, aber notfalls auch gegen sie: „Meinen Mund“, sagt Federle, „werde ich mir jedenfalls nicht verbieten lasen.“

Eigentlich, sagt Biologe Uwe-Volkmar Köck, müsste der politische Organismus andersrum aufgebaut sein: Die Parteizentralen in Berlin hören ihren Mitgliedern zu, sammeln Vor-Ort-Erfahrungen und bündeln sie zum Programm: Alle Theorie leitet sich aus der politischen Praxis ab. In Wahrheit verhalte es sich genau umgekehrt: Die Parteien entwerfen eine Theorie – und suchen die Wirklichkeit an sie anzupassen. Und wenn die Realität nicht zur Ideologie passt, dann umso schlimmer für die Realität.

Köck ist ein praktizierender Linker, er war es in der DDR, und er ist es heute. Nirgends in Sachsen-Anhalt ist die Linke so erfolgreich wie in seinem Wahlkreis, 35 Prozent, das ist das Ziel in Halle-Neustadt, dem sozialistischen Wohnparadies aus den Siebzigerjahren: eine Stadt der kurzen Wege, mit Schwimmhalle, Kino, Stadion, gebaut für die Ingenieure und Arbeiter der Chemiekombinate in Buna und Leuna. Heute ist Halle-Neustadt so etwas wie ein Mahnmal des Untergangs der DDR.

Hochachtung für die Konkurrenz

Die Einwohnerzahl hat sich halbiert, die Siedlung wurde zurückgebaut, entkernt, begrünt, an einer Stelle modernisiert, an einer anderen abgerissen, doch vier der fünf Zentralbauten stehen seit mehr als 15 Jahren leer: Denkmäler der Hoffnungslosigkeit. Aber Köck kämpft um sie, immer noch und immer weiter, um die Hochhäuser und um Halle-Neustadt, im Stadtrat und im Magdeburger Landtag, immer unterwegs für seine untergehende Heimat.

Andreas Schachtschneider hat für seinen Konkurrenten nur Hochachtung übrig. Der CDU-Mann kämpft Seit’ an Seit’ mit Köck, für den Erhalt des Friedhofs zum Beispiel, damit sich der Abstieg der Neustadt nicht beschleunigt. Der große Unterschied zwischen den Linken und der CDU sei, so Schachtschneider, dass die Linken ihr Wahlkreisbüro immer in Neustadt hatten „und wir nicht“. In Wirklichkeit kämpfe er nicht gegen Köck, sondern gegen begründete Vorurteile – und gegen eine Berliner Regierungspolitik an, die „nicht den Eindruck erweckt, als würde sie sich für unsere Belange interessieren“. Und die Linke in Berlin, die interessiert sich? „Na ja“, sagt Köck, „es würde schon helfen, wenn sie endlich aufhören würde, vom Kommunismus zu schwafeln. Als ob wir von dem nicht genug gehabt hätten.“ 

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